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Abb. 1:Jörg Syrlin (der Ältere) (um 1425–1491), Amos am Gestühl im Ulmer Münster Unserer Lieben Frau (1469–1471). Beischrift aus Am 5,4.6 (Quaerite Dominum et vivetis – Sucht den Herrn, so werdet ihr leben); der Korb als Hinweis auf die Vision vom Erntekorb (Am 8,1–3).
Schon dieser knappe Durchgang belegt, wie sehr die Wahrnehmung des antiken Propheten von den Fragen der jeweiligen Gegenwart geprägt ist. Das verweist auf den hermeneutischen Zirkel, in dem sich jede Auslegung bewegt. Es zeigt aber auch, wie der vorgegebene Text in der Aufnahme ständig neu angereichert wird, wodurch Facetten zum Vorschein kommen, die früheren Leserinnen und Lesern verborgen oder zumindest unwichtig waren.
Gegenwärtige LektürenSo ist seit den gesellschaftlichen Aufbrüchen der 1960er-Jahre Amos ganz neu als Sozialkritiker und Vorkämpfer für Recht und Gerechtigkeit entdeckt worden. 76In seiner berühmten Rede aus dem Jahr 1963 mit der Vision einer von Rassendiskriminierung freien amerikanischen Gesellschaft zitiert Martin Luther King Am 5,24 in diesem Sinn: „until justice rolls down like waters and righteousness like a mighty stream.“ 77Im Ruhrgebiet wurden 1968 „Kritische Blätter“ gegründet, die seitdem engagiert für soziale Gerechtigkeit eintreten und sich den programmatischen Namen „Amos“ gaben; die Zeitschrift ist jetzt auch online zugänglich ( www.amos-zeitschrift.eu). Als das Sozialinstitut Kommende Dortmund 2006 eine Zeitschrift herausgab, die den Untertitel „Gesellschaft gerecht gestalten“ trägt, nahm es ebenfalls den Propheten Amos als Titel: „Namensgeber der Zeitschrift ist der alttestamentliche Prophet ‚Amos‘, dessen leidenschaftliches Engagement für soziale Gerechtigkeit noch heute fasziniert. Seine Vision: ‚Das Recht ströme wie Wasser, die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach‘ (Am 5,24).“ 78
Sind damit alle Schätze der Amosschrift gehoben? Vermutlich nicht. Noch am Anfang steht eine Lektüre von Amos im globalisierten postkolonialen Kontext. 79Sodann erkennt die Menschheit im 21. Jh. zunehmend, dass die Wirtschaftsweise der Industrieländer in den letzten zwei Jahrhunderten zu unumkehrbaren ökologischen Folgen vom Artensterben bis zur Erderwärmung geführt hat. Zweimal wird in den hymnischen Stücken im Amosbuch gesagt, dass Jhwh fähig sei, die Wasser des Meeres zu rufen und sie über die Erde auszugießen (5,8; 9,6). Heute wissen wir, dass tatsächlich in absehbarer Zeit die Wasser des Meeres zahlreiche Gegenden der Erde überschwemmen werden, wenn es nicht gelingt, die Erderwärmung zu begrenzen. Wir führen das heute nicht auf das Handeln eines über der Erde thronenden Himmelsgottes zurück. Aber das Amosbuch sagt uns in der Sprache und den Denkvorstellungen seiner Zeit, dass soziale Ungerechtigkeit und ökologische Katastrophen unmittelbar zusammenhängen. Und das ist auch heute noch richtig. 80
Im Amosbuch gibt es noch viel zu entdecken.
Überschrift und Motto (Am 1,1–2)
1Die Worte ades Amos, der unter den Schafzüchtern von Tekoa war, die ber über Israel cschaute in den Tagen Usijas, des Königs von Juda, und in den Tagen Jerobeams, des Sohnes Joaschs, des Königs von Israel, zwei Jahre vor dem Erdbeben. 2Er sagte: Jhwh a– von Zion brüllt er und von Jerusalem erhebt er seine Stimme, da verdorren bdie Weideplätze cder Hirten, und es vertrocknet der Gipfel des Karmel.
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
1a „Die Worte des Amos“: Durch den Eigennamen wird auch das davor stehende Nomen im status constructus determiniert, also „die Worte“ und nicht „Worte des Amos“.
1b Das zweimalige אשׁר ( ʾašær ) bezieht sich im ersten Fall eindeutig auf den Namen „Amos“ („der unter den Schafzüchtern … war“). Die zweite Verwendung ist hingegen formal nicht so eindeutig. Auch hier könnte man auf „Amos“ beziehen: „der über Israel schaute / der Visionen über Israel hatte“. 1Aber dann müsste man das Verb „schauen“ ohne direktes Objekt konstruieren, was ganz ungewöhnlich ist (allein Ps 11,4 käme als Analogie in Frage – mit Jhwh als Subjekt –, sonst hat „schauen“ als Verb immer ein direktes Objekt, vgl. Ex 24,11; Num 24,4.16 u. ö.). Besonders deutlich sind verschiedene Überschriften über oder in Prophetenbüchern. Hier ist auch die Vorstellung belegt, dass neben der „Vision“ oder „Schauung“ (Jes 1,1; Ez 12,27) auch das „Wort“ (Jes 2,1; Mi 1,1) oder der „Spruch“ (Jes 13,1; Hab 1,1) Gegenstand des Schauens sein können. Folglich bezieht sich der zweite Relativsatz in Am 1,1 nicht wie der erste auf „Amos“, sondern auf „die Worte des Amos“.
1c „über Israel“: Die Präposition על ( ʿal ) kann auch mit „gegen“ wiedergegeben werden. Aufgrund der anschließenden synchronen Datierung nach Königen von Juda und Israel muss hier das Nordreich gemeint sein. Die Septuaginta liest „Jerusalem“ statt „Israel“ und gibt damit ihrer gesamten Amosübersetzung eine neue Stoßrichtung. Es geht nicht mehr um das zur Zeit der Übersetzung längst untergegangene Nordreich, sondern um das gegenwärtige Gottesvolk, für das Jerusalem als sein Zentrum steht. 2
2a V. 2a (nach wajjōmar ) bildet einen zusammengesetzten Nominalsatz. 3Aus diesem Grund habe ich in der Übersetzung das – in der Terminologie der traditionellen Grammatik sogenannte – Subjekt an den Anfang gezogen: „Jhwh (ist es, von dem gilt): von Zion brüllt er ...“ Jhwh ist die bekannte Größe, von der nun im „Prädikat“ des Nominalsatzes Neues ausgesagt wird. Der Gottesname steht betont am Anfang.
2b Die erste Satzhälfte hat Imperfekte, die zweite perfecta consecutiva . Damit ist eine Folge angezeigt. 4Das Imperfekt bezeichnet weder ausschließlich die Vergangenheit (so die Septuaginta) noch ausschließlich die Zukunft (so die Vulgata und in ihrem Gefolge Luther und die Zürcher Bibel), sondern ist überzeitlich zu verstehen und am besten mit dem zeitlosen Präsens wiederzugeben (so NRSV).
2c „Da verdorren die Weideplätze“: Das Hebräische hat zwei homonyme Wurzeln 1אבל ( ʾābal ) = „trauern“ und 2אבל „vertrocknen, verdorren“. Wegen des Parallelismus mit יבשׁ ( jābēš ) liegt hier die Bedeutung „vertrocknen“ nahe. Dennoch liegen auch die Septuaginta und die Vulgata nicht falsch, wenn sie mit πενθέω bzw. lugeo = „trauern“ übersetzen. 5Sie wissen, dass das Wort אבל noch einmal in Am 8,8; 9,5 vorkommt, wo es „trauern“ heißt, weil „die Bewohner der Erde“ sein Subjekt sind. Auch diese Wiedergabe hat ihr Recht. Wir stoßen hier zum ersten Mal auf das Phänomen, dass sich im Amosbuch neue Sinndimensionen erschließen, wenn man es „von hinten“ liest.
1In Am 1,1 haben wir die Überschrift zum Amosbuch vor uns. Sie stellt keinen Satz dar, sondern besteht aus dem Registervermerk „Die Worte des Amos“, der mehrfach erweitert ist. Die erste Erweiterung, mit אשׁר ( ʾašær ) eingeleitet, bezieht sich auf die Person des Amos. Es heißt von ihm, er sei „unter den Schafzüchtern“ von Tekoa gewesen. Das Wort נקד ( nōqēd ) kommt in der Hebräischen Bibel außer hier nur noch in 2 Kön 3,4 vor. 6Dort wird Mescha, der König von Moab, als נקד ( nōqēd ) bezeichnet, der (angeblich) Hunderttausende von Kleintieren als Tribut an den König von Israel lieferte. Er ist jedenfalls nicht als Hirte, sondern als Besitzer oder Züchter gewaltiger Herden vorgestellt. Dem entspricht die Verwendung des Wortes in ugaritischen Texten. „Taking the Ugaritic evidence as a whole, it seems clear enough that the nqdm had something to do with sheep, but that their status was considerably higher than that of ordinary shepherds or rʿym. “ 7Mit der Wahl des Wortes נקד ( nōqēd ) wird Amos also eher als der Besitzer von Schafherden denn als Wanderhirt präsentiert.
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