»Pass ja auf dich auf«, gab sie zurück. »Du weißt ja, mein Leben hängt an deinem.«
»Wie metaphorisch du immer bist.«
»Das meinte ich wortwörtlich.« Sie funkelte ihn grimmig an. »Kindskopf.«
Eine Gruppe würde mit Nikki aufbrechen, um schnell zu sein und jederzeit von einem Punkt zum nächsten zu gelangen. Die andere, zu der auch Chloe gehörte, würde den Sprungkreiszauber nutzen.
Jen, Max, Nikki und Leonardo nahmen nebeneinander Aufstellung und reichten sich die Hände. Sie trugen alle dunkle Kampfmontur, wie eine Spezialeinheit der Polizei. Während Jen und Max noch ihre Essenzstäbe besaßen, mussten Nikki und Leonardo ohne diese auskommen. Dafür hatten sie ihre Einsatzgürtel mit allerlei Tinkturen und Artefakten gefüllt.
»Viel Glück«, sagte Leonardo.
Nikki sprang.
»Legen wir los.« Alex klatschte in die Hände.
Neben ihm traten Clara und Artus in den Sprungkreis. Chloe bildete den Abschluss. Sie bezweifelte, dass es eine gute Idee war, Artus und Alex in eine Gruppe zu stecken. Doch als der ehemalige König mit Jen hatte reisen wollen, hatte Alex das rundheraus abgelehnt. Schließlich benötigten sie laut ihm für ihr Ziel das Wissen des Loserkönigs.
»Ich hoffe, du kannst einigermaßen zielen«, merkte Artus an.
»Also, ein Kraftschlag aus dieser Entfernung würde direkt in deinen Eiern landen«, erwiderte Alex.
Bevor es erneut ausarten konnte, übernahm Chloe es kurzerhand, den Zielpunkt anzuvisieren und den Zauber auszulösen. »Corpus Disparere. Corpus Aportate.«
Neongrüne Flammen schossen empor und der Sprungkreis trug sie fort.
Die anderen verschwanden abrupt.
Jen hielt ihren Essenzstab in der Hand und ließ den Blick schweifen. Nikki hatte sie ein paar Meter neben dem Zielpunkt abgesetzt, damit sie sich zuerst einen Überblick verschaffen konnten.
Umgeben von kargem Land ragten die Häuser eines Dorfes empor. In der Ferne plätscherte ein Bach, die Luft trug Eiseskälte heran.
»Wo sind wir?«, fragte Jen.
»Östliches Russland«, erwiderte Nikki.
Die Sprungmagierin wirkte trotz ihrer Jugend abgeklärt. Eine Folge des Todes von Chris, der sie sehr mitgenommen hatte. In der aktuellen Situation war Jen jedoch für ihre Rationalität dankbar.
»Hier gibt es einige abgelegene Dörfer.« Leonardo deutete auf ein angeschlagenes Holzschild. »Hier wird der Weg zum Dorfzentrum angegeben.«
Nur ein Teil der Straßen war geteert. Jen fühlte sich unweigerlich in der Zeit zurückversetzt. Die Häuser waren einfache Bauten, in denen vermutlich drei Generationen unter einem Dach lebten. Ihnen hätte längst jemand begegnen müssen.
»Wo sind all die Nimags?«, fragte Max.
Es war seltsam, ihn mit diesem neuen Essenzstab zu sehen, den Kevin und Alex aus der Vergangenheit mitgebracht hatten. Das Artefakt schien einen Hauch von Ewigkeit auszustrahlen.
»Wenn Merlin vor uns hier war, dann sind sie vermutlich tot«, sagte Leonardo.
Am Horizont zog die Dämmerung herauf.
»Wie weit sind wir vom Ziel entfernt?«, fragte Jen Nikki, während sie durch die Straßen gingen.
Hier gab es keine Laternen, spätestens bei Einbruch der Dunkelheit mussten sie also magisches Licht erzeugen. Zweifellos würde Merlin dies registrieren.
»Wir müssen dort rüber.« Nikki deutete in die Richtung eines angrenzenden Berges.
»Ein Höhlensystem«, schätzte Leonardo mit fachkundigem Blick. »Andernfalls hätten wir ihn bemerkt.«
Nun kam es ihnen zugute, dass es hier keinerlei dichte Vegetation gab.
Sie passierten den Ortskern östlich und ließen die letzten Häuser hinter sich, als die Dunkelheit hereinbrach. Leonardo erwies sich als Pragmatiker und barg aus einem verlassenen Haus eine Taschenlampe.
»Auch Nimag-Werkzeug kann nützlich sein«, erklärte er.
Jen zuckte bei jedem Knacken zusammen. Als Kind der Großstadt waren ländliche Gegenden zwar eine willkommene Abwechselung, allerdings nur bei strahlendem Sonnenschein. In der Dunkelheit schienen die Schatten zum Leben zu erwachen, um nach ihnen zu greifen.
»Habt ihr das gehört?«, fragte Max.
»Falls du witzig sein willst …« Jen fuhr zusammen. »Ja, da ist etwas.«
»Klang wie Flügelschläge.« Leonardo suchte den Himmel ab, doch der Mond blieb hinter Wolken verborgen, der Horizont eine undurchdringliche dunkle Masse.
»Es hilft nichts, wir brauchen Licht«, sagte Max. »Falls das Geschöpfe Merlins sind, weiß er sowieso schon Bescheid.«
Er wechselte einen Blick mit Jen.
Sie nickten einander zu und hoben ihre Essenzstäbe.
»Fiat Lux!«
Ihre Stimmen vermischten sich, die magischen Worte hallten über der Ebene wider. Aus den Essenzstäben lösten sich leuchtende Kugeln, die in die Höhe stiegen …
… und ein Meer aus Körpern enthüllten.
Breite Schwingen umspannten ledrige Leiber, Kreuzgurte prangten an jeder Brust. Abgesehen von Lendenschurzen trugen die Wesen keinerlei Kleidung. In ihren Mündern saßen nadelspitze Zähne.
»Das sind Varye«, hauchte Jen entsetzt. »Ich habe sie in Johannas Erinnerung gesehen. Chloe war mit Johanna, Eliot und Anne in ihrem Splitterreich. Tagsüber sind sie aus Stein und sehen aus wie in ihrer menschlichen Form. Aber nachts verwandeln sie sich in die geflügelten Kreaturen.«
»Lauft!«, brüllte Leonardo.
Die Varye stürzten sich aus dem tintenschwarzen Himmel herab, krächzten und schrien. Ihre Worte entstammten einer Sprache, die Jen nicht verstand.
Sie ließ ein magisches Licht vorausschweben. Aus der Dunkelheit schälte sich der Eingang des Höhlensystems hervor.
»Dort rein!«, brüllte Max. »Nikki, überprüfe es.«
Die Sprungmagierin verschwand. Wo der Zugang sich befand, wurde es hell.
»Alles klar!«, rief sie.
Ein kurzer Sprung, dann war sie bei Leonardo. Beide kehrten zur Höhle zurück.
Zu Fuß würden sie es nicht schaffen.
Einer der Varye prallte gegen Jen und warf sie um. Krallen rissen ihre Kleidung auf, ihre Haut blieb jedoch unverletzt. Aktuell keine Magie einzusetzen, hatte sich endgültig als Strategie zerschlagen.
»Contego!«
Um sie herum entstand eine Schutzsphäre.
Max wollte umkehren, doch sie brüllte ihm zu, weiter in Richtung Höhle zu laufen.
Auch neben ihm erschien Nikki und packte seinen Arm. Mit einem Plopp verschwanden beide.
Die Varye bemerkten, dass ihre Opfer sich in Luft auflösten und bildeten einen Pulk. Im Schein des magischen Lichts schienen sich Tausende der Kreaturen zu versammeln, betrachteten Jen aus tückisch funkelnden Augen. Sie war Beute.
Ein lauter Schrei erklang, ausgestoßen von einer einzelnen Kreatur. Wie auf ein geheimes Kommando hin stürzten sich die Varye herab. Der Horizont machte einen Satz, wie eine Welle ergossen die Wesen sich über sie.
Säbelartige Schlagwaffen donnerten gegen die Schutzsphäre, Krallen schabten auf der manifestierten Essenz. Das Krächzen nahm zu.
»Potesta!«, brüllte Jen.
Doch ihre Kraftschläge zeigten kaum Wirkung. Diese Kreaturen mochten nur wenig Magie nach außen einsetzen, erwiesen sich aber als robust gegenüber Angriffen.
»Ignis Aemulatio!«
Jen erschuf den Feuerzauber. Immerhin, die magischen Flammen trieben einen Teil der Kreaturen zurück, verschafften Jen Bewegungsspielraum. Trotzdem konnte sie nicht weiter fliehen. Die Varye hatten eine Mauer vor der Höhle gebildet, versperrten den einzigen Fluchtweg.
Ein Krafthieb schlug zwischen den Leibern ein und trieb sie zur Seite.
Max kam herbeigelaufen. »Komm schon!«
»Du solltest doch gehen.«
»Auch eine Art ›Danke‹ zu sagen.«
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