»So einfach ist das nicht. Es wird ein Rennen gegen Merlin, doch das ist nicht genug.« Sie atmete langsam ein, ließ ihren Blick schweifen und atmete wieder aus. »So vieles habe ich gesehen, so viele Kämpfe. Die Jahrhunderte sind im Rückblick ein nicht greifbares Etwas aus verschwommenen Leben.«
»Wie metaphorisch«, sagte Leonardo trocken.
»Es geht mir um etwas Bestimmtes. Auch Merlin hat eine Ewigkeit gelebt. Außerhalb wie auch innerhalb des Onyxquaders. Seine Pläne reichen weit voraus.«
Clara lachte bitter auf. »Das kann ich bestätigen. Als Schattenfrau hat mein dunkles Ich ähnlich gehandelt.«
»Wir müssen herausfinden, was er vorhat, nachdem die vier erweckt sind«, schloss Alex. »Auf diese Art bleiben uns zwei Angriffspunkte.«
»Ich werde meinen Sohn suchen gehen!«, bekräftigte Leonardo. »In einem dieser … Särge liegt er. Ich werde Nagi Tanka herausreißen und diesen elenden Schamanen ein für alle Mal vernichten.«
»Vergiss nicht, was er trägt.« Annoras Stimme war leise, aber eindringlich. »Die Macht Nagi Tankas beruhte auf einem Blutstein.«
Annora hatte ihren Mann, den Großvater von Kevin, an eines dieser Artefakte verloren. Es waren mächtige Instrumente von grausamer Brutalität.
»Glaub mir, Annora«, Leonardos Stimme war rau wie Gestein, der von den Jahren der Herausforderung geformt worden war: »Niemals werde ich das vergessen.«
Die Zuflucht wirkte fremd und gleichermaßen vertraut, als Chloe nach der Zusammenkunft durch die Räume streifte. Sie fühlte sich wie ein Gast, der ein Teil von alledem war und doch nicht dazugehörte. Seltsamerweise war es ausgerechnet Max, der keinerlei Vorbehalte ihr gegenüber zu haben schien.
Der Rat hatte sich darauf verständigt, zwei Gruppen zu bilden, um Merlin zu schlagen. Zaubertränke wurden zusammengesucht, Kampfzauber erprobt, alles wurde schnellstmöglich vorbereitet. Damit blieben ihr nur wenige Minuten.
In der Küche hatte sich nicht viel verändert.
Auf der Couch im Eck saß Tilda, neben ihr Einstein. Beide waren in ein Gespräch vertieft und bemerkten Chloes Anwesenheit nicht. Es blieb nur eine kurze Pause, dann würde die Köchin erneut Verwundete behandeln.
»Ich habe ihn nur für dich gebraut.« Tilda schob ein Glas in seine Richtung. »Essenzfeuer 2.0, so sagt man doch. Das wird deine Forschung beschleunigen.«
Wie immer wirkte Einstein mit seinen zerzausten Haaren wie ein verwirrter Kauz, was seine Gegner oftmals dazu brachte, ihn zu unterschätzen. »Wie lieb von dir.« Er setzte das Glas an die Lippen.
Chloe wandte sich ab und verließ den Raum. Die beiden sollten die wenigen gemeinsamen Minuten ohne Störung genießen. Hinter ihr erklang einen lauter Rums.
»Albert!«, rief Tilda erschrocken.
Chloe schmunzelte. Ja, sie war zurück. Die Zuflucht mit all ihren unterschiedlichen Charakteren, Menschen voller Leidenschaft, Fehlern und Schwächen. Kein durchstrukturierter Apparat, bei dem alle einem Anführer huldigten.
Doch wo sollte sie noch suchen?
In Gedanken kehrte sie zurück nach Antarktika, wo es begonnen hatte. Das Band war noch immer vorhanden, auch wenn sie Ataciaru in den letzten Monaten durch den Pakt des falschen Glücks völlig vergessen hatte.
Sie stieg die Treppe immer weiter in die Höhe, bis sie den Speicher erreichte. Vermutlich war seit über einhundert Jahren niemand mehr hier gewesen, einen Großteil der Utensilien konnte sie nicht zuordnen. Haushaltsgegenstände, Bücher, alte Kleidung, sogar eine Kiste mit erloschenen Bernsteinen sah sie.
In der hintersten Ecke gab es zwischen dem Gerümpel einen schmalen Spalt.
»Darf ich hereinkommen?«, fragte sie.
»Nein«, kam es entschieden von Nils zurück.
»Ich möchte mich aber gerne mit Ataciaru unterhalten.«
»Er will aber nicht.«
Ein Jaulen erklang.
»Er will nur ein bisschen. Aber Attu ist mein Freund.«
Chloe lächelte, obgleich es ihr in der Seele schmerzte, ihrem Seelenverwandten nicht nahe zu sein. »Ich verspreche dir, dass ich dir Attu nicht wegnehme.«
»Na gut.«
Stille.
»Kommst du rein?«, fragte Nils.
Eigentlich hatte Chloe gehofft, dass beide herauskommen würden. Sie legte sich auf den Bauch und schlängelte sich durch die Öffnung.
Im Inneren erwartete sie eine kleine Höhle. Die Wände bestanden aus Kisten, die Decke war ein schräger Dachbalken, der Boden mit Kissen ausgelegt. Dazwischen lagen unzählige Keksverpackungen und Comics. An der Seite stand ein Hundenapf mit Wasser, einer der ebenfalls mit Keksen gefüllt war.
Auf dem größten Kissen saß Nils, die Arme um Ataciaru geschlungen.
In den Augen des Huskys leuchtete es auf, als Chloe sich in die Hocke aufrichtete. Gleichzeitig konnte sie die Distanz spüren. Die Verbindung zu Merlin hatte die Saat des Bösen in ihr Herz getragen. Der Hüterhund von Antarktika war für das reine Böse jedoch unsichtbar. In ihrem Wahn des falschen Glücks hatte sie ihn vergessen.
»Es tut mir leid«, hauchte sie.
Der Schmerz floss durch die Verbindung zu Ataciaru, sie konnte es spüren.
»Worte können nicht ausdrücken, wie sehr es mir leidtut«, flüsterte Chloe. »Du spürst es. Für mich hast du die Stätten Antarktikas verlassen, bist in ein fremdes Land gereist. Du hast mein Leben mehr als einmal gerettet.« Sie berührte ihr Brust auf Herzhöhe. »Ich spüre die Verbindung zwischen uns noch immer, das Band der Seelenverwandtschaft.«
Ataciaru jaulte auf.
Nils strich ihm mit seiner winzigen Hand durch das Fell.
»Ich bin deiner nicht würdig«, sagte Chloe. »Noch nicht. Aber ich verspreche dir, dass unser Band eines Tages zu alter Stärke zurückfindet. Ich werde es neu knüpfen, stärker als vorher. Und was ich an Schuld auf mich geladen habe, dafür werde ich Buße tun.«
Unweigerlich wanderten ihre Gedanken zu Merlin. Wie sehr sie ihn hasste. Er hatte ihre Seele missbraucht, sie versklavt. So viele Freunde befanden sich noch immer unter seiner Knechtschaft.
Ataciaru kam herbeigelaufen und ließ sich direkt vor ihr auf die Hinterbeine nieder. Sanft stupste er sie mit der Nase an. Chloe strich ihm durchs Fell.
»Er verzeiht dir«, sagte Nils. »Aber er kommt noch nicht mit.«
Sie lächelte. »Für den Anfang ist das genug. Du kannst ihn verstehen?«
Nils nickte.
»Zwei reine Seelen. Du bist auch etwas Besonderes, kleiner Mann.«
Nils dachte über ihre Worte nach. »Klein ist retativ.«
Chloe lachte auf. »Du meinst sicher relativ.«
Der Zwerg nickte eifrig. »Das sagt Einstein. Und dann glänzen Tildas Augen. Einmal hat er sie beatmet.«
Den nächsten Lachanfall verbarg Chloe hinter einem Husten. Während sie die Treppenstufen genommen hatte, hatte Nils wohl in der Küche vorbeigeschaut, wo Tilda und Einstein sich geküsst hatten. Sie gönnte es der Köchin.
»Einstein ist ein sehr schlauer Mann«, sagte Chloe nur.
»Und verwirrt«, ergänzte Nils altklug.
»Das möglicherweise auch.« Sie strich Ataciaru noch einmal durchs Fell. »Ich muss mich auf den Weg machen. Die Teams müssen sich beeilen, damit wir Merlin einholen können.« Sie ließ ihre Gelenke knacken. »Das wird ein Wiedersehen.«
»Er hat immer zwei Ziele«, sagte Nils.
»Was meinst du?«
Ein Schulterzucken. »Attu sagt das.«
»Danke.« Sie lächelte beiden zu.
Ächzend ging es zurück durch den Spalt. Ein Wunder, dass sie überhaupt hindurchpasste.
Die Heilung der angeschlagenen Magier schritt weiter voran, doch im Trainingsraum hatten die Mitglieder der Teams sich zusammengefunden.
»Ich hasse es, wenn wir uns trennen«, sagte Alex und küsste Jen innig.
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