Ganz plötzlich war für einen kurzen Moment die größte Schwäche des englischen Fußballs offengelegt. Beim Fußball geht es nicht um Spieler, oder jedenfalls nicht ausschließlich um Spieler. Es geht vielmehr um Gestaltung und Räume, um das Spielsystem und wie sich die Spieler darin bewegen. (Ich sollte an dieser Stelle vielleicht verdeutlichen, dass ich mit „Taktik“ eine Kombination aus Formation und Spielweise meine. Ein 4-4-2 kann genauso unterschiedlich sein wie die beiden Mittelfeldspieler Steve Stone aus England und Ronaldinho aus Brasilien.) Ich hoffte, dass der Argentinier nur Eindruck machen wollte und deshalb übertrieb. Schließlich tragen Einsatz, Wille, Kondition, Kraft, Tempo, Leidenschaft und Können ebenfalls ihren Teil bei. Doch trotz alledem gibt es auch einen theoretischen Aspekt, mit dem sich die Engländer – auch in anderen Sportarten – nur ungern befassen.
Das ist eine Schwäche, die mich frustriert. Doch dies soll keine Polemik über den englischen Fußball werden. Ich glaube nicht unbedingt, dass der englische Fußball dem Untergang geweiht ist. Obwohl am Ende Hohn und Spott auf Sven-Göran Eriksson einprasselten, muss man doch bedenken, dass es bisher lediglich Alf Ramsey geschafft hat, England bei drei aufeinanderfolgenden internationalen Turnieren bis ins Viertelfinale zu führen. Erst die Geschichte wird zeigen, ob die verpasste Qualifikation für die EM 2008 nur eine Momentaufnahme oder der Anfang eines längeren Niederganges war. Unter Fabio Capello jedenfalls qualifizierte England sich problemlos für die WM 2010, legte in Südafrika allerdings eine Bauchlandung hin. Seither hat sich das Muster aus ungefährdeter Qualifikation für ein großes Turnier und anschließendem Misserfolg fest etabliert, sieht man von der WM 2018 in Russland ab.
Schaut man sich dagegen Uruguay oder Österreich an, weiß man, wie ein Niedergang aussieht (selbst wenn man die von Oscar Washington Tabárez inspirierten positiven Leistungsausschläge in den Jahren 2010 und 2011 berücksichtigt). Oder Schottland: Da glauben die Leute immer noch, eine Fußballgroßmacht zu sein. Ganz zu schweigen von Ungarn, jener Mannschaft, die 1953 den englischen Traum von der eigenen Überlegenheit zerstörte. Als im November 2006 mit Ferenc Puskás der seinerzeit beste Spieler dieser ruhmreichen Truppe verstarb, war Ungarn schon fast aus der Top 100 der FIFA-Weltrangliste gerutscht. Das ist Niedergang.
Englands damalige 3:6-Niederlage gegen Ungarn in Wembley markierte einen Wendepunkt. Erstmals verlor England zu Hause gegen einen Gegner vom europäischen Festland. Vor allem die Art und Weise der damals kassierten Klatsche hatte mit der Vorstellung aufgeräumt, dass England nach wie vor die Welt regieren würde. „Die Geschichte des britischen Fußballs und der Herausforderung durch das Ausland“, so schrieb der bekannte Fußballjournalist und -schriftsteller Brian Glanville in seinem als Reaktion auf die Niederlage entstandenen Buch Soccer Nemesis , „ist die Geschichte einer riesigen Überlegenheit, die durch Dummheit, Kurzsichtigkeit und mutwillig aufgesetzte Scheuklappen vernichtet wurde. Es ist eine Geschichte von auf schändliche Weise vergeudetem Talent, von unglaublicher Selbstgefälligkeit und unendlicher Selbsttäuschung.“ Und genau so war es.
Nichtsdestotrotz wurde England 13 Jahre später Weltmeister. Seine riesige Überlegenheit mochte zwar verspielt worden sein, aber England gehörte immer noch zu den großen Fußballnationen. Ich glaube kaum, dass sich während des letzten halben Jahrhunderts viel daran geändert hat. Es mag schon sein, dass wir vor großen Turnieren gern zu euphorisch sind, und umso mehr sind wir dann von einem Ausscheiden im Viertelfinale enttäuscht. Dennoch gehört England nach wie vor zu den acht bis zehn Mannschaften, die eine realistische Chance auf den Sieg bei einer Welt- oder Europameisterschaft besitzen – trotz gelegentlicher Überraschungssieger wie Dänemark oder Griechenland.
Es bleibt jedoch die Frage, weshalb England seit 1966 keinen dieser Titel gewinnen konnte. Möglicherweise könnte eine besser koordinierte Jugendförderung helfen oder eine stärkere Berücksichtigung von Technik und taktischer Disziplin. Vielleicht würde auch eine Begrenzung der Zahl ausländischer Spieler in der Premier League Englands Chancen verbessern. Vorschläge dieser Art gibt es viele. Dennoch gleicht der Weg zum Erfolg dem sprichwörtlichen Fischen im Trüben. Das Glück bleibt ein entscheidender Faktor im Fußball. Eine Sieggarantie gibt es nie. Das gilt insbesondere für die sechs oder sieben Spiele bei einer Europa- oder Weltmeisterschaft.
Einige meinen, dass der Sieg bei der WM 1966 das Schlimmste war, was dem englischen Fußball passieren konnte. So vertritt Autor Rob Steen in The Mavericks die Auffassung – ähnlich wie David Downing in seinen Büchern über Englands Rivalität mit Argentinien und Deutschland –, dass dieser Erfolg England zurückwarf. Er habe tief im fußballerischen Bewusstsein der Engländer die Ansicht zementiert, dass die Spielweise der Mannschaft Alf Ramseys der einzige Weg zum Erfolg sei. Da ist sicherlich etwas dran.
Mir scheint jedoch, dass weniger die englische Spielweise unter Ramsey an sich das Problem ist, sondern vielmehr, dass sie für Generationen von Fans und Trainern in England die einzig „richtige“ Spielweise darstellte. Nur weil etwas unter bestimmten Umständen, mit bestimmten Spielern und zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Entwicklung des Fußballs richtig war, heißt das keineswegs, dass es dies für alle Zeiten ist. Hätten die Engländer 1966 versucht, wie Brasilien zu spielen, hätten sie das Turnier auch so beendet wie Brasilien, das von körperlich aggressiveren Gegnern in der Gruppenphase nach Hause geschickt worden war. Ja, es wäre ihnen noch schlimmer ergangen, weil sie technisch viel limitierter waren als die Brasilianer.
Alle langfristig erfolgreichen Trainer teilen die Fähigkeit, sich immer weiterzuentwickeln – so wie Sir Alex Ferguson, Walerij Lobanowskyj, Bob Paisley oder Boris Arkadiew. Auch wenn ihre Mannschaften ganz unterschiedlich spielten, wussten doch alle diese Trainer genau, wann es an der Zeit war, eine Erfolgsstrategie aufzugeben und eine neue einzuführen. Damit möchte ich deutlich machen, dass ich nicht an eine „richtige“ Spielweise glaube. Natürlich kann ich mich unter emotionalen und ästhetischen Gesichtspunkten mehr für das Kurzpassspiel von Arsène Wengers FC Arsenal erwärmen als für den Pragmatismus von José Mourinhos FC Chelsea. Das ist jedoch meine persönliche Vorliebe und soll nicht heißen, dass das eine richtig und das andere falsch ist.
Ich bin mir auch der Tatsache bewusst, dass zwischen Theorie und Praxis Kompromisse gefunden werden müssen. Auf der theoretischen Ebene werde ich eher von Lobanowskyjs Dynamo Kiew oder Fabio Capellos AC Mailand inspiriert. Auf dem Platz jedoch, als ich an der Universität zwei Jahre lang für die Unimannschaft – oder zumindest für deren zweite und dritte Mannschaft – gegen den Ball trat, spielten wir hochgradigen Zweckfußball. Wir waren nicht besonders gut und holten aus dem verfügbaren Spielermaterial wahrscheinlich das Beste heraus. Ich vermute zwar, dass wir einen ästhetisch ansprechenderen Fußball hätten spielen können. Allerdings glaube ich nicht wirklich, dass dies während der bierseligen Titelfeierlichkeiten, die jedes Jahr stattfanden, irgendjemanden besonders störte.
Man kann das Ganze aber auch nicht darauf reduzieren, dass die „richtige“ Spielweise diejenige ist, die die meisten Spiele gewinnt. Schließlich würde nur der Langweiligste aller Utilitaristen behaupten wollen, dass Erfolg lediglich in Punkten und Pokalen gemessen werden kann. Für Romantik muss ebenfalls Platz sein. Dieses Spannungsfeld zwischen dem, was die Brasilianer futebol d’arte und futebol de resultados , Fußballkunst und Ergebnisfußball, nennen, gehört zu den fußballerischen Konstanten überhaupt. Das liegt vielleicht daran, dass es eine nicht nur im Sport, sondern im Leben an sich grundsätzliche Frage berührt: Will man lieber gewinnen oder lieber schön spielen?
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