Der Terminus »Dramaturgie« zielt insgesamt auf drei wesentliche Aspekte des darstellenden Erzählens ab:
1. die Tätigkeit der Fertigung und Aufführung von Dramen (in der Philosophie »Poiesis« genannt, altgriechisch: für zweckgebundenes Handeln),
2. die Lehre von den Regeln und Prinzipien für die Umsetzung im Rahmen der dem Medium entsprechenden Kriterien (»Poetik«)
3. eine Theorie, die Rechtfertigungen und Analysemethoden für die postulierten Regeln liefert und systematisiert.3
Aus der Perspektive, Dramaturgie als Werkzeug der Umsetzung wie auch Analyse zu betrachten, hat, als Beispiel, Gotthold Ephraim Lessing auf zeitgenössische Dramenaufführungen geblickt. Seine »Hamburgische Dramaturgie«4 enthält neben den Analysen implizit auch eine Theorie der Theaterdramaturgie. Er greift dabei unter anderem auf den von Aristoteles mit »Mythos« titulierten, in der Folge aber mit »Fabel« übersetzten Terminus (Schmitt 2008, S. 222) für die Organisation der Einheit der Handlung zurück und führt den Begriff »Intrige« ein (Lessing 1767/69, S. 163 f.). »Intrige« steht in manchen Dramentheorien für das Prinzip der »Fabel«, in anderen für den Teil der Geschichte, der durch meist entgegengesetzte Interessen und daraus resultierende Konflikte eine Handlung vorantreibt. Lessing knüpft an das aristotelische Paradigma an, dass die Handlung aus Notwendigkeit und nach Wahrscheinlichkeit voranschreiten solle (Aristoteles 2008, S. 13; Kap. 9, 1451a35), und führt es mit den Ideen der Aufklärung zusammen. Die Katharsis, meist als Reinigung von den Affekten Furcht, Schaudern und Mitleid bzw. als Ausgleich dieser Affekte verstanden,5 transferiert Lessing demnach zu einer Verwandlung hin zu einem tugendhaften und aufgeklärten Geist.
Von Brecht wurden die inhärenten Grundlagen der aristotelischen Dramaturgie und des bürgerlichen Theaters des 19. Jahrhunderts, wie z. B. die Einfühlung in Protagonisten und Konflikte sowie die schicksalhafte Unabänderlichkeit der Umstände, in denen eine Geschichte angesiedelt ist, scharf kritisiert. Doch auch er verwendet den Begriff »Fabel« und sieht ihn als einen zentralen dramaturgischen Terminus an. Zu Brechts Verständnis eines reformierten Fabel-Begriffs gehört die Idee, dass das Wesen des Menschen sich durch sein gesellschaftliches Handeln zeige.6 Dramaturgie ist aus dieser Sicht nicht nur die Lehre vom Drama (in allen seinen Formen und Medien), sondern immer auch eine Form der Lehre vom Menschen.7
»Fabel« bzw. »Intrige«, »Figur« und »Konflikt« sind zentrale Kategorien der traditionellen Dramaturgie. Normative Dramaturgien überlieferten zudem für den Dramenaufbau Vorgaben, so z. B. die überschaubare Einheit von Handlung, Zeit und Raum. Es existiert darüber hinaus eine Vielzahl an Begriffen für Handlungskomposition, Figurenrede und die sinnlich erfahrbare Darbietung. Auch hier findet sich die theoretische Basis schon bei Aristoteles, der sechs Ebenen eines Dramas benennt: Einheit der Begebenheiten als Handlungskomposition ( mýthos ), Charaktere ( ēthos ), sprachliche Gestaltung ( lexis ), Denkweise ( diánoia ), die Aufführung ( ópsis ) und Lieddichtung ( melopiía )8 (Aristoteles 2008, S. 10; Kap. 6, 1450a10). Das, was heute als Handlung bezeichnet wird, entsteht aus der Verflechtung dieser Ebenen. Aristoteles unterschied dafür Handlungen ( pragmata ) und das Geflecht aus Handlungen ( praxeis ). Der Begriff »Drama«, aus dem das Wort Dramaturgie seinen Ursprung hat, bezeichnet dagegen die Bühnenaktion bzw. Umsetzung durch Darstellende.
Die Handlungskomposition wird in vielen Übersetzungen »fabula« oder »Fabel« genannt. Der Handlungsaufbau enthält gegebenenfalls normierte Stationen bzw. Momente für den Anstoß oder die Fortsetzung der Handlung, z. B.: »Kollision«, »Umkehr« bzw. »Peripetie« (auch: Handlungs- oder Glücksumschlag), »Erkennung« ( anagnṓrisis ) sowie »erregendes« und »retardierendes Moment« oder »steigende« und »fallende« Handlung (Freytag 1863) als Pendant zu Aristoteles’ »Schürzung des Knotens« und »Lösung des Knotens«. In Schmitts Übersetzung der Poetik von Aristoteles: »Verwicklung« und »Lösung« (Schmitt 2008).
Gustav Freytag, wie auch Otto Ludwig in seinen von Nationalismus getragenen »Shakespeare-Studien« (Ludwig 1874/1901), beharrte auf einem Fünf-Akt-Schema, das nur auf einen eingeschränkten Korpus angewendet werden kann9 und welches das aristotelische Ideal erweitert. Damit einhergehend konnten gelockerte Regeln für eine Tragödie erfasst werden, z. B. für die Anzahl der handelnden Figuren oder für Handlungsorte. Auch Nebenhandlungen und Neben- oder Begleiterfiguren konnten im fünfaktigen Drama ausführlicher in Erscheinung treten. Einer Geschichte können so zusätzliche Bedeutungsebenen verliehen werden. Die bisher genannten Basisbegriffe sind – wie sich in den Untersuchungen zeigen wird – auf den narrativen Film produktiv anwendbar.10
Zu den Bereichen des darstellenden Erzählens, die mithilfe der Dramaturgie erfasst werden können, gehören nicht nur die Strukturen und Wirkungen, sondern auch die Figuren und ihr äußeres Erscheinen sowie ihr innerer Charakter und »sozialer Gestus« (Becker 2012, S. 4). Hier hinein fließen auch soziologische und psychologische Aspekte. Figuren lassen sich dann in »Charaktere« und »Typen« unterscheiden, deren physische Erscheinung sichtbar, deren geistige Eigenschaften dagegen unsichtbar sind (Becker 2012, S. 3 f.) – nicht zuletzt für die Filmmusik und Musikdramaturgie ein möglicher Ansatzpunkt. »Charaktere« sind individuell angelegt, komplexer gezeichnet und können Veränderungen durchlaufen. Im Handeln der »Charaktere« zeigen sich immer auch der überdauernde Teil der Figur und ihre ethischen Grundsätze . Davon kann das Pathos eines »Charakters« abgegrenzt werden, der den augenblicklichen Gemütszustand oder Affektausbruch zeigt. »Typen« sind Figuren, die sich im Verlauf der Handlung nicht ändern, die exemplarisch für überpersönliche Eigenschaften oder Verhaltensweisen stehen und meist in Zusammenhang mit feststehenden Sujets, Genres und Situationen auftreten. Nicht selten sind Nebenfiguren als »Typen« zu bezeichnen.
Dramaturgie berührt auch die Inszenierung eines Werkes. Auf den Film übertragen bedeutetet dies allerdings, dass eine Inszenierung während vieler Phasen der Filmherstellung stattfindet: während des Drehs in der Arbeit mit Schauspielerinnen und bei der sogenannten »Auflösung« einer Szene (Position der Kamera, Kamerafahrten, Position der Schauspieler im Setting u. a.), bei der Montage und Bildbearbeitung sowie bei der abschließenden Filmmischung. Die Filmmischung ist nicht die Vervollständigung der Tonspur, sondern dient der Entscheidung und Festlegung dazu, wie Musik und Ton »inszeniert« werden. Erst im Zusammenwirken entfaltet alles seinen dramaturgischen Sinn. Hier mögen die Auffassungen darüber, wie weit Dramaturgie reicht, auseinandergehen. Die Musikdramaturgie im Film wird vom abschließenden Arbeitsschritt, der Filmmischung, entscheidend mitgeprägt. Hier werden alle auditiven Gestaltungselemente zueinander in Beziehung gesetzt, es wird ihre »sensorische Qualität«11 bestimmt und alles Klingende in endgültiger Form in Beziehung zur Geschichte gesetzt.
Bei der Suche nach einer Definition von Dramaturgie finden sich einerseits solche, die die Breite der Thematik und Anwendungsbereiche abzudecken versuchen, dabei naturgemäß sehr allgemein bleiben, zum anderen Definitionen, die z. B. nur auf das Theater beschränkt sind, einen in anderer Weise eingeschränkten Dramaturgiebegriff fortschreiben oder bestimmte Teilaspekte in den Vordergrund rücken. Einige seien an dieser Stelle zitiert, gerade weil keine Definition allein für diese Arbeit tragfähig erscheint.
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