»Je mehr Erfahrung und Einsicht in die Natur des Menschen ich gewinne, desto mehr gelange ich zu der Überzeugung, daß der Mensch zum größeren Teile tierhaft ist.«
Henry Morton Stanley, 1887
»Der große Gorillamann erweckte meine Aufmerksamkeit ... Er wirkte würdig, voll verhaltener Kraft und schien seiner majestätischen Erscheinung völlig bewußt zu sein. Ich empfand den Wunsch, mit ihm zu kommunizieren ... Nie zuvor hatte ich bei der Begegnung mit einem Tier dieses Bedürfnis gehabt. Während wir einander so über das Tal hinweg beobachteten, fragte ich mich, ob er wohl die Verwandtschaft, die uns verband, erkannte.«
George B. Schaller, 1964
Nur unsere Vorurteile und die Verzerrung durch die Mercator-Projektion hindern uns daran, die ungeheure Größe des afrikanischen Kontinents zu erkennen. Mit seinen rund dreißig Millionen Quadratkilometern ist Afrika beinahe ebenso groß wie Europa und Nordamerika zusammen. Und es ist annähernd zweimal so groß wie Südamerika. So wie wir seine Ausmaße unterschätzen, verkennen wir auch die Natur des »dunklen« Erdteils: Er besteht größtenteils aus heißen Wüstenstrichen und offenen Grassteppen. Tatsächlich trägt Afrika die Bezeichnung »dunkler Erdteil« nur aus einem einzigen Grund: Sie ist eine Anspielung auf die äquatorialen Regenwälder in seiner Mitte. Sie bilden das Einzugsgebiet des wasserreichen -Kongo und nehmen etwa ein Zehntel der Fläche des afrikanischen Kontinents ein - knapp vier Millionen Quadratkilometer schweigenden, feuchten, dunklen Waldes, ein einziger gleichförmiger Gürtel, sechzehnmal so groß wie die Bundesrepublik Deutschland. Dieser Urwald existiert seit über sechzig Millionen Jahren in unveränderter Gestalt, war nie ernsthaft bedroht.
Noch heute leben nur rund eine halbe Million Menschen im Kongo-Becken, meist dicht beieinander in Dörfern, die an den Ufern der trägen, den Dschungel durchziehenden, schlammigen Flüsse liegen. Die große Weite des Waldes bleibt unangetastet, und bis auf den heutigen Tag sind Gebiete von Tausenden von Quadratkilometern noch gänzlich unerforscht. Das gilt vor allem für den nordöstlichen Bereich des Kongo-Beckens, am Rande des zentralafrikanischen Grabens, wo der Regenwald bis an die Virunga-Vulkane heranreicht. Da es dort weder Handelswege noch interessante Güter gab, gelangten die Weißen erst vor weniger als hundert Jahren in jene Gegend. Das Wettrennen um die »wichtigste Entdeckung der achtziger Jahre« fand 1979 im Kongo statt und erstreckte sich über sechs Wochen. Dieses Buch schildert die dreizehn Tage der letzten amerikanischen Expedition in den Kongo, im Juni 1979, gut hundert Jahre nach seiner ersten Erforschung durch Henry Morton Stanley in den Jahren 1874 bis 1877. Wer die beiden Expeditionen vergleicht, erkennt, in welchem Maße sich im dazwischenliegenden Jahrhundert die Erforschung Afrikas geändert - oder auch nicht geändert - hat.
Stanley - wir kennen ihn als den Korrespondenten des New York Herold, der 1871 den verschollenen Livingstone fand. Seine eigentliche Bedeutung jedoch liegt in späteren Unternehmungen. Moorehead nennt ihn »eine neue Spielart des Menschen in Afrika ... Forscher und Geschäftsmann in einem ... Stanley ging nicht nach Afrika, um die Afrikaner zu bekehren oder um ein Imperium zu errichten, und ihn trieb auch nicht das Interesse an Dingen wie Anthropologie, Botanik oder Geologie.
Er war schlicht gesagt darauf aus, sich einen Namen zu machen.« Als Stanley 1874 erneut nach Sansibar aufbrach, wurde er wiederum von Zeitungen großzügig finanziell unterstützt.
Neunhundertneunundneunzig Tage später tauchte er am Atlantik wieder aus dem Dschungel auf, nach unglaublichen Entbehrungen und dem Verlust von mehr als zwei Dritteln seiner ursprünglichen Begleiter. Und nun hatten er und die ihn finanzierenden Zeitungen eine der großen Geschichten des Jahrhunderts zu berichten: Stanley war dem gesamten Lauf des Kongo gefolgt. Zwei Jahre darauf allerdings kehrte er unter gänzlich anderen Umständen nach Afrika zurück. Er reiste unter einem angenommenen Namen, lenkte neugierige Verfolger mit Hilfe von Scheinexkursionen von seiner Fährte ab, und die wenigen, die überhaupt wußten, daß er sich in Afrika aufhielt, konnten nur vermuten, daß er einen »ganz großen geschäftlichen Coup« im Sinne hatte.
Tatsächlich war sein Geldgeber König Leopold II. von Belgien, der für sich persönlich einen großen Teil Afrikas erwerben wollte. »Es geht nicht um Kolonien für Belgien«, schrieb er an Stanley, »sondern um die Schaffung eines neuen Staates, so groß wie nur eben möglich ... Der König als Privatperson möchte Besitz in Afrika erwerben. Das Land Belgien will keine Kolonie und auch keine überseeischen Besitzungen. Daher muß Mr. Stanley Grund und Boden erwerben oder sich übertragen lassen ...« Dieser unglaubliche Plan wurde tatsächlich ausgeführt. Ein Amerikaner sagte 1885, König Leopold gehöre der Kongo, »so wie Rockefeller die Standard Oil gehört«. Ein zutreffender Vergleich in mehrfacher Hinsicht: Die Erforschung Afrikas war inzwischen von Geschäftsinteressen beherrscht.
So ist es bis heute geblieben. Stanley hätte die Expedition gutgeheißen, die die Amerikaner 1979 in Heimlichkeit und Hast und mit dem Ziel, sie möglichst bald zu beenden, durchführten. Doch der Unterschied hätte Stanley erstaunt. Als er 1875 in das Gebiet der Virunga-Vulkane kam, hatte er für den Weg dorthin nahezu ein ganzes Jahr gebraucht -die Amerikaner gelangten in kaum mehr als einer Woche dorthin.
Und sicher hätte sich Stanley, der mit einer kleinen Armee von vierhundert Leuten reiste, über eine Expedition gewundert, die nur zwölf Köpfe umfaßte - darunter ein Menschenaffe. Die Gebiete, durch die die Amerikaner ein Jahrhundert nach Stanley zogen, waren unabhängige Staaten; der Kongo hieß inzwischen Zaire - der Fluß wie auch das Land. 1979 war mit dem Wort »Kongo« in Wirklichkeit nur noch das Einzugsgebiet des Flusses Zaire gemeint, auch wenn es von den Geologen aus alter Gewohnheit und wegen seines romantischen Beiklangs weiterbenutzt wurde.
Trotz dieser Unterschiede hatten beide Expeditionen bemerkenswert ähnliche Ergebnisse.
Wie einst Stanley verloren auch die Amerikaner zwei Drittel ihrer Expeditionsteilnehmer und kehrten ebenso verzweifelt aus dem Dschungel zurück wie Stanleys Leute ein Jahrhundert vor ihnen. Und wie Stanley berichteten auch sie Unglaubliches von Kannibalen und Pygmäen, von untergegangenen Kulturen im Dschungel und sagenhaften verlorenen Schätzen.
Ich danke R. B. Travis von den Earth Resources Technology Services in Houston, Texas, für die Erlaubnis, auf Videobändern festgehaltene Berichte auszuwerten, und Dr. Karen Ross, ebenfalls von der ERTS, für darüber hinausgehendes Informationsmaterial über die Expedition, ferner Dr. Peter Elliot vom Zoologischen Institut der University of California in Berkeley und der Projektgruppe »Amy«, einschließlich Amy selbst, sowie Dr. William Wens von der Firma Kasai Mining & Manufacturing, Zaire, Dr. Smith Jefferson vom Institut für medizinische Pathologie der Universität Nairobi in Kenia und schließlich Captain Charles Munro aus Tanger, Marokko.
Außerdem bin ich Mark Warwick, Nairobi, für sein Interesse an dem Projekt zu Dank verpflichtet, sowie Alan Binks, Nairobi, für seine Bereitschaft, mich in die Provinz Virunga, Zaire zu bringen, und Joyce Small für ihre Hilfe beim Vorbereiten meiner oft kurzfristig geplanten Reisen in abgelegene Teile der Welt. Ganz besonders danke ich schließlich meiner Assistentin Judith Lovejoy, ohne deren unermüdliche Mitarbeit unter extrem schwierigen Bedingungen ich dieses Buch nicht hätte schreiben und fertigstellen können.
Michael Crichton
Die Knochenstätte
Der Morgen dämmerte über dem Regenwald am Kongo. Die bleiche Sonne vertrieb die Morgenkühle und den beklemmenden feuchten Dunst. Ihr fahles Licht beleuchtete eine gigantische, stille Welt. Baumriesen mit Stämmen von zwölf Metern Durchmesser erhoben sich sechzig Meter hoch und breiteten dort ihr dichtes, den Himmel verdeckendes, ständig tropfendes Laubdach aus. Vorhänge aus grauem Moos, Schlingpflanzen und Lianen hingen in dichtem Gewirr von den Bäumen herab, aus deren Stämmen schmarotzende Orchideen sprossen. Vom Boden ragten, schimmernd vor Nässe, fast mannshohe Riesenfarne empor und hielten den Bodennebel fest. Hier und da schimmerte ein Farbfleck: die roten Blüten der giftigen Aphelandra und die blauen der Dicindraranke, die sich ausschließlich am frühen Morgen öffneten. Doch der Haupteindruck war der einer riesigen, allzu großen graugrünen Welt - dem Menschen fremd und unwirtlich.
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