„Niemand?“ sagte Herr Boelke. „Dann will ich mal selber…! Du weißt es, Eugen? Dann mal los!“
Eugen hatte allen Mut zusammengenommen und seinen Finger gehoben, nur so ein ganz klein bißchen, aber Herr Boelke hatte es doch gesehen.
„Akklimatisieren kommt von Klima, das ist ein lateinisches Wort“, sagte er, „es heißt soviel wie Wetter, Wetterlage. Akklimatisieren heißt, sich an ein bestimmtes Klima gewöhnen!“
„Sehr gut, Eugen“, sagte Herr Boelke, „wirklich ausgezeichnet!“
Eugen setzte sich mit heißem Kopf, er hatte das Gefühl, eine Schlacht gewonnen zu haben. Aber da hörte er, wie der Junge vor ihm seinen Nachbarn anstieß und flüsterte: „Ein Streber, dieser Eugen, was?!“
Und Eugens ganze Freude war mit einem Schlag verflogen.
Er meldete sich überhaupt nicht mehr, obwohl er alles wußte, was gefragt wurde, ja, er wußte noch viel mehr. Er war immer ein einsames Kind gewesen, durch seine Krankheit und durch seine zarte Gesundheit von den anderen Kindern getrennt. Er hatte viel Zeit gehabt zu lesen, und er las leidenschaftlich gerne. Die Stunden, in denen er unterrichtet wurde, waren für ihn immer die schönsten gewesen, denn Lernen und Lesen waren für ihn der einzige Zugang zu der bunten Welt gewesen, die ihm selber verschlossen war.
Als in der nächsten Stunde Rechnen an die Reihe kam, nahm ihn Herr Boelke dran, obwohl er sich nicht gemeldet hatte. Aber grade diese Aufgaben, die das vierte Schuljahr jetzt durchnahm, hatte Eugen noch nicht gehabt, und so wußte er keine Antwort. Er stand da und wußte nichts zu sagen, und die Klasse lachte schadenfroh los.
Eugen wurde wütend. Es war oft genug passiert, daß der eine oder andere Junge keine Antwort gewußt hatte, aber niemand hatte ihn deswegen ausgelacht. Nur bei ihm lachten sie!
„Herr Boelke“, sagte er, „es tut mir leid, aber diese Aufgaben habe ich noch nie gerechnet, ich werde mich aber bemühen, diese Lücke so rasch wie möglich auszufüllen!“
Wieder lachte die ganze Klasse, und Herr Boelke mußte „Ruhe!“ brüllen, damit sie wieder still wurde.
„Ist schon gut, Eugen“, sagte er, „du wirst es sicher schnell lernen!“
Dann kam die große Pause, und diese Viertelstunde auf dem Schulhof war schrecklich für Eugen, es kam ihm vor, als wenn er noch nie im Leben so unglücklich gewesen wäre. Nicht daß die Jungen ihn geärgert oder gestoßen hätten, viel schlimmer, sie kümmerten sich gar nicht um ihn. Mutterseelenallein stand Eugen in einer Ecke des Schulhofes und kaute an einem Apfel, während rings um ihn her der Lärm anschwoll und wieder abklang, große und kleine Jungen an ihm vorüberflitzten, Bälle und fröhliche Schreie durch die Luft flogen. Nur er war allein, ganz allein, so allein wie noch nie in seinem Leben.
Er war nahe daran, in Tränen auszubrechen, aber obwohl es ihm niemand gesagt hatte, wußte er, daß er um keinen Preis weinen durfte. Wenn ihn die anderen würden weinen sehen, würden sie ihn endgültig für einen Schwächling und einen Streber halten. So biß er denn die Zähne zusammen und zwang sich, ein gleichgültiges Gesicht zu machen, ein Gesicht, als ob ihn das ganze lustige Treiben auf dem Schulhof nur langvreilte.
Er wollte sich nicht unterkriegen lassen, er würde es denen schon zeigen!
In der nächsten Stunde war Geographie dran, und davon wußte Eugen mehr als alle anderen Jungen zusammen. Er hielt sich jetzt auch nicht mehr zurück, sondern meldete sich bei jeder Frage. Nun grade! Sie sollten ihn noch kennenlernen!
Es war ein sehr unglücklicher, aber ein sehr trotziger und aufrechter Junge, der nach Schulschluß durch das große Portal auf die Straße trat, wo die tomatenrote Limousine auf ihn wartete.
Herr Schäfer wußte nach einem kurzen Blick auf Eugens blasses verschlossenes Gesicht, was los war, aber er sagte kein Wort, sondern öffnete stumm den Schlag.
„Soll ich dich noch ein bißchen spazierenfahren?“ fragte er, als er den Motor anließ.
„Bitte, Herr Schäfer“, sagte Eugen.
Er lehnte sich zurück und schloß die Augen. Er war bestimmt der unglücklichste Junge auf der ganzen Welt, niemand wollte etwas von ihm wissen.
Dann blickte er zum Fenster hinaus. Scharen von Jungen und Mädchen strömten nach Schulschluß nach Hause, in kleinen und großen Gruppen, keiner ging allein.
Eugen legte seine kleine Hand auf Herrn Schäfers breite Schulter. „Bitte“, sagte er, „nach Hause!“
Erst als Eugen am Abend in seinem Bett lag, übermannten ihn die Tränen, er konnte sie einfach nicht länger zurückhalten.
Den ganzen Tag hatte er sich zusammengenommen, er war froh gewesen, daß sein Vater verreist war, und Fräulein Luise hatte er auf alle ihre vielen Fragen nur mit Ja oder Nein geantwortet. Er hatte sich nicht anmerken lassen, wie elend er sich fühlte. Aber jetzt, als er ganz allein in seinem dunklen Zimmer im Bett lag, fühlte er sich so unglücklich und von aller Welt verstoßen, daß er herzzerreißend schluchzen mußte. Sein Kopfkissen war schon ganz naß von Tränen, als er endlich einschlief.
Er träumte von der Schule, er träumte davon, daß die Jungen nett zu ihm waren, ihn freudig begrüßten und mit ihm spielten, lachten und tobten.
Eugen konnte ja nicht ahnen, daß mancher Junge aus seiner Klasse um dieselbe Zeit davon träumte, von einem Chauffeur in eleganter grauer Livree in einer schnittigen tomatenroten Limousine in die Schule gefahren zu werden.
Eugen glaubte, daß niemand aus seiner Klasse ihn leiden möchte, und seine Klassenkameraden glaubten, daß Eugen hochmütig und verwöhnt wäre und sich gar nicht daraus machte, mit ihnen zu spielen.
So ließen auch in den nächsten Tagen die Jungen Eugen allein auf dem Schulhof stehen, und niemand kümmerte sich um ihn. Nur Fritz, der jede Klasse zweimal mitgemacht hatte und ein großer Faulpelz und Rüpel war, konnte es sich einmal nicht verkneifen, Eugen ein Bein zu stellen.
Eugen schlug der Länge nach hin und schrammte sich sein Knie auf. Es tat mächtig weh, aber er verzog keine Miene. Als er sich wieder hochgerappelt hatte, sah er, daß eine tolle Keilerei im Gange war. Mit einem Indianergeheul hatte sich der sommersprossige Karl auf den langen Fritz gestürzt, und jetzt wälzten sich die beiden auf dem Boden. Eine Menge Schüler standen im Kreis um die Kämpfer herum und feuerten sie mit Zurufen an: „Gib’s ihm, Karl! Feste, Karl! Laß dir nichts gefallen, Fritz!“
Der Kampf endete damit, daß Karl dem Fritz auf der Brust hockte und ihm die Arme auf den Boden drückte. Fritz strampelte zwar noch wild mit den Beinen, aber das half ihm nichts, er war besiegt. Karls Kopf war so rot, daß man seine Sommersprossen fast nicht mehr sah, sein weißblondes Haar leuchtete darüber wie eine Fahne, und seine hellen blauen Augen blitzten in wildem Triumph.
„Du bist besiegt!“ schrie er.
„Laß mich los!“ jammerte Fritz.
„Sag, daß du besiegt bist!“
„Ja… laß mich los!“
„Willst du dich noch mal an ’ne halbe Portion ’ranmachen?“
„Nein!“
„Dann ist es gut“, sagte Karl und ließ Fritz los. Der sprang sofort auf die Beine und spuckte den Sand aus, den er bei der Rauferei in den Mund gekriegt hatte.
Eugen war glücklich. Es gab niemanden in der Klasse, den er so bewunderte wie Karl. Er war ein guter Schüler und der beste Turner, und wenn Karl etwas sagte, dann galt es in der Klasse. Für ihn, Eugen, hatte Karl sich eingesetzt, wenn er auch von ihm gesagt hatte, daß er eine halbe Portion wäre, er hatte doch für ihn gekämpft.
Die Schulglocke klingelte die Pause ab, und alles stürmte nach oben. Eugen drängte sich durch, so daß er neben Karl die Treppe hinauflief.
„Das hast du großartig gemacht, Karl!“ sagte er.
Karl musterte ihn mit einem kurzen Blick von der Seite. „Pah!“ sagte er. „Kleine Fische für mich!“
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