Hans Imgram - Chronik eines Weltläufers

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Karl May hat seinen Ich-Helden fast die ganze Welt bereisen und Abenteuer bestehen lassen, doch er tat das meist ohne planvolles Zeitgefüge. Einige Reisen hat er nur angedeutet, ohne sie näher zu beschreiben, und manche frühen Abenteuer erst nachträglich in spätere Erzählungen eingeflochten.
Der Karl-May-Freund Hans Imgram hat es nun unternommen, in langjähriger Arbeit alle Episoden auf einer chronologischen Linie zu ordnen, Lücken zu ergänzen und daraus das spannende Reisetagebuch des Old Shatterhand alias Kara Ben Nemsi zusammenzustellen.

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Dienstag, 9. Juni 1868:

Die Morgendämmerung brach endlich mit einem leichten Nebel an. Kurz darauf griffen die Poncas an, wurden jedoch mit einer Feuersalve empfangen. Nach der zweiten Salve brausten zehn Kavalleristen hinaus, die die Roten in die Flucht schlugen. Doch Parranoh zwang sie zur Umkehr, und da Winnetou, Old Firehand und ich ebenfalls auf den Kampfplatz gestürmt waren, wurden wir in Zweikämpfe verwickelt. Jetzt erblickte ich Parranoh im Haufen der Indianer und bemühte mich, an ihn zu kommen. Mir ausweichend, kam er in die Nähe des Apatschen, der sich auf ihn stürzen wollte, doch Old Firehand drängte Winnetou ab und schrie, dass ‚Tim Finnetey‘ ihm gehöre. Vor Schrecken starr stand Parranoh, als er seinen eigentlichen Namen rufen hörte, doch dann stürmte er wie von der Sehne geschnellt davon. Bevor Winnetou und Old Firehand ihm folgen konnten, war ich ihm schon auf den Fersen und bei einem Zusammenprall fuhr ihm mein Messer bis an den Griff in den Leib. Ich nahm kein Zeichen des Lebens mehr an ihm wahr. Da war auch schon Winnetou heran, der ganz gegen seine Gewohnheit Parranoh mit drei Schnitten die Kopfhaut vom Schädel löste. Wie grimmig musste der sonst so menschenfreundliche Apatsche diesen Tim Finnetey hassen, dass er ihm die Kopfhaut nahm. Dann eilten wir zurück und konnten gerade noch den verwundeten Old Firehand aus einer misslichen Lage befreien. Der Kampf war vorüber, und die Besatzung beschäftigte sich bereits damit, die Toten zusammenzutragen und die Verwundeten ins Fort zu schleppen. Später kamen auch noch die Reiter zurück, die die fliehenden Indianer verfolgt hatten.

Mittwoch, 10. Juni 1868:

Am nächsten Tag wurden die roten Indsmen begraben. Vorher hatte man noch die nähere und weitere Umgebung abgesucht und dabei eine überraschende Entdeckung gemacht: Der Platz, wo ich Parranoh zur Strecke gebracht hatte, war leer. Der vereitelte Überfall war durch Eilboten sofort nach Fort Randall gemeldet worden.

Dienstag, 16. Juni 1868:

Nach sechs Tagen traf von dort eine Verstärkung von zwanzig Mann ein. Sie brachten den Befehl ihres Colonels mit, die Gefangenen nach Fort Randall zu schicken, wo sie abgeurteilt werden sollten. Auch jetzt erfuhr ich nichts über die Beziehung von Winnetou und Old Firehand zu Parranoh.

Mittwoch, 24. Juni 1868:

Die Genesung Old Firehands war schneller fortgeschritten, als wir erwartet hatten, und so waren wir nach verhältnismäßig kurzer Zeit aufgebrochen, um durch das Land der kriegerischen Dakotas bis an den Mankizita vorzudringen, an dessen Ufer Old Firehand seine ‚Festung‘ hatte. Als wir am heutigen Abend am Lagerfeuer saßen, bemerkte Old Firehand den Ring an meinem Finger, den Harry mir nach dem Ölbrand in New Venango unfreiwillig zurückgelassen hatte. Ich musste ihm dieses Abenteuer erzählen und er fieberte direkt mit. Er kannte Harry, kannte Emery Forster, der wahrscheinlich bei dem Ölbrand ums Leben gekommen war, und er kannte Harrys Bruder in Omaha. Aber er sagte mir nicht, dass er selbst Harrys Vater war, wie ich aus seiner ganzen Aufregung annehmen musste.

Donnerstag, 25. Juni 1868:

Am nächsten Morgen schlugen wir die Richtung zur Festung ein. Winnetou und Old Firehand schienen enger miteinander verbunden zu sein, als ich bisher annehmen konnte. Doch Winnetou hatte mit mir nie darüber gesprochen. Ich erfuhr jetzt nur, dass Winnetou und Old Firehand vor Jahren dieselbe Frau geliebt hatten, die sich jedoch für den Weißen entschieden hatte und deren beider Sohn Harry war. Mit der hereinbrechenden Dämmerung kamen wir in die Nähe der ‚Festung‘. Hier traf ich zu meiner Überraschung auf meinen alten Lehrmeister Sam Hawkens, der zusammen mit Dick Stone und Will Parker zur Mannschaft Old Firehands gehörte. Durch den engen Zugang des ‚Wassertors‘ gelangte man in Old Firehands ‚Festung‘. Das Felsental schien von oben herab unbezwingbar zu sein. Nachdem ich mich umgesehen hatte, steuerte ich auf eine etwas höher liegende Hütte zu, wo ich unverhofft auf Harry traf, der mich fast feindlich empfing. Abends am Lagerfeuer betrachtete er mich jedoch mit anderen Blicken, wie es mir schien. Später sprach er sich mit mir aus, entschuldigte sich für sein Verhalten in New Venango und wies mir seine eigene Felshöhle als Wohnung an.

Freitag, 26. Juni 1868:

Am Morgen ging ich mit Harry und Sam Hawkens zum Bee Fork, um die aufgestellten Fallen zu prüfen. Durch das Verhalten der Biber wurden wir auf zwei Ponca-Indianer aufmerksam gemacht, die durch die Gegend schlichen. Es schienen Kundschafter auf dem Kriegspfad zu sein. Was wollten diese hier? Waren sie uns wegen ihrer Niederlage bei Fort Niobrara auf den Fersen? Sam Hawkens musste Old Firehand sofort warnen, während Harry und ich uns nach der Hauptschar der Roten umschauen wollten, damit wir deren Stärke genau kennenlernen und unsere Maßnahmen danach richten konnten. Wir mussten wohl eine Stunde lang gehen, bis wir eine andere Spur entdeckten, die in Richtung ‚Festung‘ ging. Als wir dann Brandgeruch wahrnahmen, schlich ich mich allein weiter, um die Poncas zu zählen, doch ich erlebte eine böse Überraschung: In ihrer Mitte saß der weiße Häuptling Parranoh oder Tim Finnetey und von seinem Kopf hing die prächtige Skalplocke herab, während Winnetou sie ihm doch genommen und nicht eine Minute lang aus seinem Gürtel gebracht hatte. War der Schurke denn leibhaftig von den Toten auferstanden? Um nicht entdeckt zu werden, kehrte ich zu Harry zurück und wir verfolgten die zuletzt entdeckte Spur, stießen dabei auf Sam Hawkens, der die beiden Indianer beobachtet hatte. Dann kehrten wir ins Lager zurück. Zusätzlich zur Wache, die die nötigen Vorbereitungen zur Verteidigung treffen musste, verließ ich mit dem Kleeblatt, Old Firehand und Winnetou die ‚Festung‘, um das Lager der Poncas aufzusuchen. Wir waren nicht weit davon entfernt, als wir auf Parranoh und einige seiner Krieger stießen, mit denen es einen heftigen, lautlosen Kampf gab. Ich hatte Parranoh unter mir und konnte ihn unschädlich machen, während die anderen Gegner ebenfalls niedergemacht wurden. Winnetou riet uns, sofort in die ‚Festung‘ zurückzukehren, da wahrscheinlich die anderen Poncas dort einfallen würden. Den bewusstlosen Parranoh aber nahmen wir mit ins Lager. Die Vorbereitungen gegen den zu erwartenden Überfall nahmen den Nachmittag und den Abend voll in Anspruch.

Samstag, 27. Juni 1868:

Es war früh am anderen Tag. Unsere Kundschafter hatten noch einen zweiten Lagerplatz der Roten entdeckt und es waren mehr, als wir angenommen hatten, und so war unsere Lage heikel, denn wir zählten insgesamt nur vierundzwanzig Mann. Deshalb wurden Dick Stone und Will Parker losgeschickt, um Verstärkung von Fort Randall herbeizuholen.

Ich war auf den Felsen gestiegen, wo ich am vorgestrigen Abend Harry wiedergefunden hatte, der mir jetzt nachgekommen war. Er erzählte mir, dass sein Vater, Old Firehand, einst Oberförster in Deutschland gewesen und in den Strudel politischer Gärung geraten sei, weshalb er mit Frau und Sohn nach Amerika flüchtete. Seine Frau starb auf der Überfahrt. Er ging als Jäger in den Westen und ließ seinen Sohn im Osten bei einer Familie zurück. Da führte ihn ein Jagdzug hinauf an den Quicourt, mitten unter die Stämme der Assiniboins, und dort traf er zum ersten Mal mit Winnetou zusammen, der mit Intschu tschuna von Wyoming kam, um sich am oberen Mississippi den heiligen Ton für die Kalumets seines Stammes zu holen. Beide, Old Firehand und Winnetou, verliebten sich in Ribanna, die Tochter des Häuptlings der Assiniboins. Sie zog Old Firehand vor, obgleich er viel älter war. Trotzdem blieben Old Firehand und Winnetou Freunde. Als Winnetou zur Zeit des Frühlings zurückkehrte, fand er Ribanna als Mutter. Harry war erst einige Tage alt. Die Jahre vergingen und Harry wuchs heran. Da nahm ihn sein Vater mit in den Osten zum älteren Sohn. Als sie zurückkamen, hatte Tim Finnetey zusammen mit den Schwarzfuß-Indianern das Lager der Assiniboins, deren Krieger auf der Jagd waren, überfallen und alle Frauen und Kinder, darunter Ribanna mit ihrer kleinen Tochter, verschleppt. Winnetou, der gerade die Assiniboins besuchen wollte, folgte Old Firehand, Harry und den Kriegern auf der Suche nach den Räubern, die hier am Bee Fork gestellt wurden. Es kam zum Kampf, doch die Assiniboins unterlagen und wurden niedergemacht. Harry fand seine Mutter Ribanna und sein kleines Schwesterchen, von Tim Finnetey erschossen, tot auf dem Schlachtfeld. Nach Tagen kamen Winnetou und Old Firehand verwundet zu Harry zurück, der sich in der Nähe des Kampfplatzes versteckt hatte. Und seit dieser Zeit suchten sie Tim Finnetey, der jetzt als Parranoh weißer Häuptling der Poncas war. Während Harry und ich wieder hinunter in den Talkessel stiegen, gingen mir verschiedene Gedanken durch den Kopf: Harry war jetzt um die dreizehn Jahre alt. Er hatte Winnetou als den jüngsten Bewerber um Ribanna bezeichnet, er sei fast noch ein Knabe gewesen. Das müsste etwa um 1854 gewesen sein. Winnetou wäre damals gerade erst vierzehn Jahre alt gewesen, denn wie ich wusste, war er 1840 geboren. Wir hatten eigentlich nie Geheimnisse voreinander, doch seine große Liebe zu Ribanna verschloss er in seinem Herzen selbst vor mir, seinem Blutsbruder.

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