Bircher legte eine Pause ein und zog ein Notizbuch aus seinem Sakko, in dem er blätterte. Ihm waren die Namen der Kollegen entfallen, mit denen Wohlfahrt kooperierte. Der jedoch nahm an, dass ihm Bircher die Stellungnahme des Industriepartners vorlesen würde, und winkte ab. Kenne ich alles, sagte seine Geste.
»Die Batterien können schon ausfallen, wie jede Batterie in einer Taschenlampe, die irgendwann leer ist. Die müssen dann nach einem festgelegten Zeitschema ausgewechselt werden, was in den von Ihnen angesprochenen Fällen nicht nötig war, weil die neu waren«, klärte ihn Wohlfahrt in leicht leierndem Ton auf.
»Aha, verstehe. Und die Elektroden?«
»Die Elektroden werden auch in anderen Häusern eingesetzt und kommen aus dem Westen. Ich habe noch nie gehört, dass ein Patient verstarb, weil die Elektrode versagte. Theoretisch denkbar wäre eine sogenannte Elektroden-Dislokation«, sagte Wohlfahrt mit einem skeptischen Blick auf Bircher, »wenn die frisch implantierte Elektrodenspitze den Kontakt zur Herzwand verliert. Die Schrittmacherimpulse erreichten dann nicht den Herzmuskel, sondern würden im umgebenden Blut verpuffen. Hätten wir auf dem EKG-Monitor erkennen können, falls ein solches Szenario eingetroffen wäre. Da war aber nichts dergleichen zu sehen«, beendete er abrupt seine wie im Selbstgespräch vorgetragenen Gedanken.
»Sie persönlich führen die Operationen durch?«
Wohlfahrt zeigte zum ersten Mal so etwas wie eine Gefühlsregung, indem sich sein Mund einmal kurz zu einem ironischen Lächeln öffnete.
»Ja, wer sonst.«
»Sie schließen also jede Panne, wenn ich das mal so ausdrücken darf, aus. Was gaben Sie dann als Todesursache an?«
»Das steht in den Unterlagen.«
Bircher beugte sich nach vorn und kniff die Augen zusammen.
»Ich bin hier, um Ihre Aussage aufzunehmen, nicht um Krankenakten zu studieren, Herr Wohlfahrt.«
Wohlfahrt lümmelte sich in seinen abgenutzten Bürosessel und bedachte Bircher mit einem Blick, als müsste er ihm einen harmlosen Befund erklären.
»Verstehe«, sagte er kühl.
»Na dann mal los, ich möchte Sie nicht durch Ihre Nachtschicht begleiten.«
Arrogante Zeitgenossen gehörten zu den Spezies, die Bircher nicht mochte. Schon gar nicht, wenn Sie seine Zeit raubten. Er straffte sich, fixierte Wohlfahrt mit einem warnenden Blick und stützte beide Arme auf die Oberschenkel. Grundsätzlich bevorzugte Bircher eine unaufgeregte Vorgehensweise, die seiner gemächlichen Art entgegenkam. Wer ihn nicht kannte, hielt ihn zumeist für einen Angestellten eines Ministeriums, vielleicht für Versorgung oder Landwirtschaft. Er kam ja tatsächlich vom Lande, seine Eltern bewirtschafteten nebenbei einen Bauernhof und er war früher einmal Biologielehrer gewesen, bevor er zum Kriminalisten ausgebildet wurde. Das lag zwar lange zurück, aber Bircher haftete mitunter jene Behäbigkeit an, wie man sie im dörflichen Leben antrifft. Wohlfahrt schob sich aus dem Sessel.
»Darf ich mich hinstellen? Habe den ganzen Tag operiert, das geht ins Kreuz.«
Bircher wollte schon sagen, meinetwegen können Sie auch im Liegen reden, wenn’s nur bald losgeht. Beide erhoben sich und standen sich wie zwei Duellanten gegenüber. Wohlfahrt umkurvte seinen Gast und sprach in den Raum:
»Die Patienten, es sind drei Männer, alle über die sechzig, gehörten der Hochrisikogruppe an.«
»Hochrisikogruppe, können Sie das einem Laien erklären?«, unterbrach ihn Bircher unwirsch.
»Bei den Patienten liegt eine besonders gravierende Herzrhythmusstörung vor, ein AV-Block dritten Grades. Die elektrischen Signale erreichen im schlimmsten Fall gar nicht mehr die Herzkammer. Infolgedessen sinkt die Herzfrequenz dramatisch. Sie merken es am Puls, der setzt aus oder schlägt extrem langsam, weniger als fünfzig Schläge. Die Patienten müssen dann sofort reanimiert werden, um eine normale Herzfrequenz sicherzustellen. Sie erhalten einen Herzschrittmacher, weil der die Funktion des elektrischen Impulsgebers übernimmt. Er sorgt für siebzig Herzschläge pro Minute.«
Wohlfahrt hatte so leise gesprochen, dass sich Bircher direkt neben ihn stellen musste. Ihm war, als röche er ein Desinfektionsmittel, und er trat einen Schritt zurück.
»Hm. Wie lange lagen die bei Ihnen mit dem Schrittmacher?«
»Alle zwei bis drei Tage. Unser letzter Verstorbener hätte am Morgen nach Hause gehen sollen. Er ist also in der Nacht vor seiner Entlassung verstorben.«
Die Feststellung klang merkwürdig teilnahmslos, wie die Verlesung einer Todesanzeige aus der Tageszeitung.
»Und die zwei anderen, sind die auch nachts abgegangen?«, nahm Bircher den Tonfall auf.
»Alle in der Nacht.«
»Von wem und wie wurde der Tod bemerkt? Ging da jemand in den Nachtstunden kontrollieren oder hat die Frühschicht den Tod festgestellt?«
»Die Schwester macht ihre Rundgänge. Einen zentralen Monitor zur Aufzeichnung der Elektrokardiogramme gibt es nur im Schwesternzimmer auf der Intensivstation, nicht auf der allgemeinen Kardiologie. Bei uns hängt der Monitor am Bettpfosten, der kann die EKGs nicht speichern. Man geht zur Kontrolle ans Bett, bei bestimmten Patienten etwas häufiger.«
»Welche sind die bestimmten Patienten?«
»Zum Beispiel die mit einem AV-Block dritten Grades oder einer Bradykardie, also mit sehr niedrigem Puls, der auch unter Belastung nicht ansteigt«, klärte ihn Wohlfahrt auf.
»Bradykardie«, murmelte Bircher, wie um sich den Begriff einzuprägen.
»Ja, wie gesagt, ein Herzschlag deutlich unter sechzig Schlägen pro Minute, beim erwachsenen Menschen.«
»Na, wieder etwas dazugelernt, Herr Doktor«, bedankte sich Bircher, die Frage nach dem Vorhofflimmern runterschluckend. »Eine Krankenschwester hat also während ihres Rundganges in der Nacht bemerkt, dass etwas nicht stimmt mit dem Patienten?«
»In der Regel kontrollieren die Nachtschwestern zu festgelegten Zeiten während der Nacht die EKGs am Bett. Im letzten Fall machte sie der Bettnachbar bei einem Kontrollgang am frühen Morgen gleich darauf aufmerksam, dass sich sein Zimmergenosse merkwürdig still verhielt. Sie rief mich.«
»Sie geben uns dann bitte die Namen der Schwestern und der Ärzte, die in den drei Nächten Dienst hatten.«
»In allen drei Fällen hatte ich Dienst«, antwortete kaum hörbar Wohlfahrt.
»Wo befanden Sie sich?«
»Hier, auf der Liege. Die Schwester weckte mich.«
»So. Und Sie haben dann sofort die Männer untersucht und nichts Auffälliges feststellen können.«
»So ist es«, murmelte Wohlfahrt leise und begab sich zurück auf seinen Schreibtischstuhl.
Bircher blieb stehen und dachte für einen Moment über das Gehörte nach. Er gab sich einen Ruck, entschlossen, zum Ende zu kommen.
»Sie haben mir noch nicht verraten, wie Ihre Diagnose lautet. Herzstillstand durch Stromausfall? Bradykardie trotz Schrittmacher? Fremdeinwirkung? Batteriedefekt oder Versagen der Elektroden?«
Beim letzten Wort drückte Wohlfahrt das Kreuz durch und warf Bircher einen misstrauischen Blick zu.
»Sie glauben doch nicht, dass jemand nachts in die Klinik geschlichen kam, um … Ja, was eigentlich hätte diese Person denn tun können? Die Schrittmacherelektroden und die Batterie hängen doch nicht am Bettgestell.«
»Werden die Batterien irgendwie geprüft, bevor sie dem Patienten eingesetzt werden?«
Wohlfahrt froren die Gesichtszüge ein. Er sah Bircher vorwurfsvoll an, so als hätte der ihm eine unverschämte Frage gestellt. Er dachte offenbar nicht daran, auf diese Frage einzugehen.
»Und?«, schob Bircher nach.
»Die Schrittmacher werden programmiert, bevor wir sie verpflanzen. Das geht nur, wenn vorher eine Batterie drin ist.«
»Verstehe, das erfolgt also außerhalb des Körpers. Und, haben Sie nun eine medizinische Erklärung für die Todesfälle auf Ihrer Station?«
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