Hasard zeigte nach Westen, ohne aber das Ufer aus den Augen zu lassen.
„Ich habe mir nämlich bei Dan die Karten angesehen. Ich sage dir, Sir, daß Ruthland erst gar nicht versucht hat, sich hierher abzusetzen. Er steckt dort drüben.“
Der Profos deutete zu den schrägen Bändern des Regens, die im schwindenden Tageslicht schwarz wirkten. Dahinter lagen unzählige Buchten und Inseln, wirr vorspringende Halbinseln und eine Vielzahl von Sandbänken.
„Dorthin segeln wir, Edwin“, erwiderte der Seewolf. „Länger als einen Tag brauchen wir nicht dazu. Aber mich drückt eine ganz andere Sorge, nämlich die, daß Ruthland heute nacht ankerauf geht und möglicherweise nach Goa zu fliehen versucht. Oder sonstwohin.“
„Davon rede ich ja seit Stunden!“ rief der Profos. „Und jetzt, in der Nacht, kann er tun, was er will. Wir bemerken nicht, wenn er abhaut.“
Hasard nickte. Die Schebecke segelte am Wind, der aus dem südwestlichen Sektor wehte. Noch hatte der Regen das Schiff nicht wieder erreicht, aber in weniger als einer halben Stunde würde das Wasser aufs Deck niederprasseln.
„Lieber Profos“, sagte der Seewolf geduldig. „Wir haben alle Überlegungen und Möglichkeiten seit Stunden durchgekaut wie ein Stück Stiefelleder. Wir können schließlich nicht fliegen wie diese verdammten Reiher oder Pelikane, oder wie die Vögelchen auch immer heißen mögen. Wir sind mit geladenen Culverinen und einer Mordswut in den Bäuchen unterwegs in den Westen dieser Gegend. Und jetzt stellst du dich hierher und erzählst mir, wo wir sind, was wir unternehmen, und was Ruthland möglicherweise tut. Wie kommst du mir vor?“
Carberry grinste breit und hielt seine riesige Pranke über den Kopf. Die ersten Tropfen lösten sich aus dem dunklen Himmel und schlugen auf die Planken. Es klang, als hüpften kleine Steine über das Holz.
„Hoffentlich komme ich dir wie ein besorgter Profos vor, der an alles denkt, Sir.“
„Genauso, Ed“, erwiderte der Seewolf. „Und jetzt spähst du mit deinen scharfen Augen dort hinüber und schreist laut, wenn du etwas anderes siehst als Regen und Landschaft. Verstanden, Mister Profos?“
Sie duckten sich unter dem ersten richtigen Regenguß, und Hasard hörte gerade noch Carberrys „Aye, aye, Sir.“
Der Regen rauschte, gleichmäßig warm und dicht, aus den Wolken. Die Sonne war nur noch ein winziger, undeutlicher roter Fleck hinter dem Regenvorhang. Wer nichts an Deck zu tun hatte, verholte ins Trockene. Von der Kombüse her wehte ein Geruch, der einem das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ.
Hasard stand auf dem Quarterdeck, spürte den Regen im Gesicht und fragte sich, was zu tun sei. Weitersegeln oder einen Platz suchen, an dem die Schebecke vor Anker liegen konnte?
Voller Selbstzweifel entschied er sich, weitersegeln zu lassen.
Das Tauwerk knarrte und knirschte, die Karavelle wiegte sich in den auslaufenden Wellen. Die Festmacher bröselten die Rinde von den dicken Baumstämmen. An den Masten und den Wanten lief das Wasser hinunter und über die Decksplanken. Von den großen Blättern der Bäume mit ihren weit überhängenden Ästen tropfte es unablässig auf das Oberdeck der „Ghost“.
Im dichten Regen sah Ruthland vom Quarterdeck aus gerade noch den Bug. Mit einem schnellen Schritt war er wieder an der Tür zur Kapitänskammer und schüttelte sich.
„Scheißwetter“, murmelte er. Aus dem dunklen Haar lief ihm das Wasser in den Kragen. „Aber ein ausgezeichnetes Versteck.“
„Du hast mal wieder in die richtige Ecke verholt“, sagte Hugh Lefray. „Aber ewig und drei Tage können wir uns hier nicht verstecken. Das weiß mittlerweile jeder an Bord.“
„Habe ich auch nicht vor.“
Ruthland und sein Kumpan hielten große Becher voll Wein in den Händen. Eine gewisse Unruhe stand deutlich in ihren Gesichtern geschrieben, aber in diesem Winkel der größeren Bucht war das Schiff so gut wie unsichtbar. Die Bäume überragten die Mastspitzen.
Als Ruthland diese Baumgruppe gesehen hatte, war sofort der Kurs geändert worden. Das Versteck war nur dreimal so groß wie der Rumpf der „Ghost“ lang.
„Außerdem“, sagte Ruthland mit rauher Stimme, „verstecken wir uns nicht. Wir warten nur einen besonders günstigen Moment ab.“
„Und dann?“ fragte Lefray lauernd.
„Dann sehen wir weiter.“
Sie lachten kurz, tranken einen Schluck und hatten nicht viel mehr zu tun, als auf das Essen zu warten. Die Geschütze waren geladen, genau wie die Culverinen auf der Seewolf-Schebecke, das war Ruthland und seiner Crew völlig klar. Gegen den Regen waren über den meisten Rohren Persenninge gespannt. Nur unter Deck und in der Kapitänskammer brannten kleine Lampen. Finsternis und rauschender Regen herrschten rund um das Schiff in der menschenleeren Ecke dieser verlassenen Gegend.
„Hör mal“, sagte Lefray nach einer Weile. „Was hast du eigentlich vor, ich meine, willst du wieder zurück zum Padischah nach Surat?“
„Unsinn!“ Ruthland fluchte. „Wir warten ab, wie sich die Lage morgen früh darstellt. Nach Surat können wir nicht zurück, das weißt du. Dort ist für uns nichts mehr zu holen. Auch für Killigrew nicht.“
„Stimmt, Kapitän.“
Lefray hielt den Kopf schief und hörte dem prasselnden Regen zu. Das Geräusch drang ungehindert durch die offene Tür der Kammer. Während des Regens blieb sogar der Dschungel hinter den Mangroven ruhig.
Der Kapitän fuhr fort: „In den nächsten Tagen treffen wir wieder aufeinander, verlaß dich drauf. Dann schicke ich den Hund zu den Fischen. Klar?“
„Völlig klar, Francis“, erwiderte Lefray und starrte Ruthland mit seinem toten Fischauge an.
Nachdem sie Surat so schnell wie möglich verlassen hatten, waren sie den Tapti-Fluß hinuntergesegelt und hatten sich nach Norden verholen wollen. Der achterliche Wind verschaffte ihnen im Regen einen Vorsprung vor dem Verfolger. Wo der Seewolf suchte – oder ob er überhaupt noch nach der Karavelle Ausschau hielt –, wußte Kapitän Ruthland nicht. Zuletzt hatten sie die Schebecke gesehen, als sie aus der Mündung des Tapti gesegelt und ebenfalls auf Nordkurs gegangen war.
„Der Kerl wird nicht lockerlassen, Francis“, sagte Lefray nach längerem Nachdenken. „Er hat gute Gründe für seine Wut.“
Mit kaltem Grinsen zuckte Ruthland mit den Schultern und warf einen Blick auf die Sanduhr.
„Vorläufig habe ich einen guten Grund, diesem Koch einen Tritt zu verpassen, dorthin, wo’s am meisten weh tut. Wo bleibt der Fraß?“ Die letzten Worte brüllte er. Der Essensgeruch war stärker geworden. Er packte den Krug und füllte die Becher erneut.
David Lean lief, die Jacke über dem Kopf, in dem schmalen Streifen des gelblichen Lichts aus der Kammer den Niedergang hoch.
„Gibt’s was, Kapitän?“ fragte er und fluchte, weil das Wasser in seine Stiefelschäfte lief. „Ich hab da was gehört …“
Ruthland winkte ab.
„Die Wache geht ihre Runden?“ fragte er. „Dein Pulver ist hoffentlich noch trocken? Und wo steckt der Koch mit unserem Essen? Wenn morgen früh der verfluchte Regen aufhört, gehen wir ankerauf.“
„Wir warten darauf“, sagte der Stückmeister. „Wir geben’s dem Seewolf, wie?“
Der Kapitän nickte. Seit sie in dieses Fahrwasser geraten waren, dachte er an die zahlreichen Buchten, die Untiefen und Sandbänke. Das Versteck war für seine „Ghost“ nicht ungefährlich – so wie für jedes andere Schiff dieser Art. Nur die flachgehenden Fischerboote manövrierten hier gefahrlos. Er tröstete sich damit, daß bei gutem Licht alles einfacher sein würde.
„Ja“, sagte er und lehnte sich im knarrenden Decksstuhl zurück. „Wir bringen das zu einem guten Ende, was wir in Surat angefangen haben. Verlaß dich drauf. Und jetzt schick uns den langweiligen Küchenmeister.“
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