Yoders theologische Überlegungen haben das Ziel, das vorherrschende theologische Korsett zu sprengen und neu zu fragen, was Jesus für uns heute bedeutet. Er konfrontiert den Jesus der Evangelien mit der Gegenwart, ohne in die naiv-theologische Falle des Simplizismus zu geraten, der Nachfolge mit einfacher Nachahmung des Weges Jesu verwechselt. Nein, Yoder ist sich der historischen Situation um die Person Jesu bewusst und möchte die Kluft zwischen Vergangenheit und Gegenwart überwinden, indem er mit exegetischen und hermeneutischen Mitteln einen eigenen sozialethischen Ansatz zu entwickeln, der Christinnen und Christen hilft mitten in der Welt als Kontrastgesellschaft zu leben. Dies zeigt sich vor allem durch die präsentische Betonung in seiner Reich-Gottes-Theologie. Yoder ermutigt, sich den Macht- und Strukturproblemen unserer Zeit aktiv zu stellen und das Evangelium nicht auf eine individualistisch verengte Auslegung zu reduzieren. Seine These, dass Jesus als Urheber eines radikalen sozialen Wandels betrachtet werden müsse und tatsächlich zu Lebzeiten ein Jubeljahr ausgerufen hat (Lk 4,16–30), beeinflusste viele Theologen weltweit. So schreibt Yoder (S. 80 in dem vorliegenden Buch):
Jesus proklamierte im Jahr 26 tatsächlich ein Jubeljahr nach den mosaischen Sabbatvorschriften: ein Jubeljahr, das in der Lage gewesen wäre, die sozialen Probleme Israels durch Schuldenerlass und durch die Befreiung von Schuldnern, deren Zahlungsunfähigkeit sie zur Sklaverei erniedrigt hatte, zu lösen.
Diese Gedanken haben eine ganze Generation von Christen weltweit beeinflusst, wie beispielsweise Ronald J. Sider, David Bosch, Samuel Escobar, Brian McLaren, Jim Wallis oder Shane Claiborne. Gerade Letzterer hat Yoders Gedanken aufgenommen und in seiner Lebensgemeinschaft in einem Armenviertel von Philadelphia ( The Simple Way ) praktisch umgesetzt und in seinen Bestsellern Ich muss verrückt sein, so zu leben: Kompromisslose Experimente in Sachen Nächstenliebe und Jesus for President reflektiert, verarbeitet und weiterentwickelt und ist so ein Vorbild für viele geworden.
Yoders Kombination aus Klarheit und Radikalität macht Die Politik Jesu zu einem der wichtigsten Bücher der letzten Jahrzehnte. Die Neuauflage kommt deshalb gerade richtig, mitten in eine Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs und des diakonischen Aufbruchs. Viele Kirchen und Gemeinden entdecken ihren gesellschaftlichen Auftrag wieder neu und versuchen, die Liebe Christi in ihre Nachbarschaft zu tragen. Dabei stoßen sie auf sozialethische Fragen, wie wir Christen mit Konsum, Umweltzerstörung oder Konflikten umzugehen haben. Yoder zeigt, dass die Bibel diese Fragen auf und ernst nimmt und sie in eine ganzheitliche Nachfolge Christi führen. Yoders Sprache ist dabei immer so scharf und pointiert wie sein Inhalt und wer sich mit „dem Krieg des Lammes“ oder „der revolutionären Unterordnung“ auseinandersetzt, lernt einen großen intellektuellen und doch demütigen Nachfolger Christi kennen, der in Schlichtheit und Kraft ein Buch geschrieben hat, das auch die nächsten 40 Jahren noch gelesen werden wird, dessen bin ich mir sicher.
Tobias Faix
Vorwort von Fernando Enns
Nur wenigen Büchern ist es vergönnt, noch zu Lebzeiten des Autors zum „Klassiker“ zu werden. John Howard Yoder gelang dies – freilich ohne Absicht – mit diesem Buch bereits in der ersten Auflage (1972). Ganze Generationen von Theologinnen und Theologen – bei weitem nicht nur aus der friedenskirchlichen Tradition – behaupten inzwischen, dies sei in ihrer gesamten theologischen Bildung zur bahnbrechenden Lektüre geworden. Die Zeitschrift Christianity Today zählte im Jahr 2000 Die Politik Jesu gar zu den zehn wichtigsten theologischen Büchern des 20. Jahrhunderts überhaupt.
Das liegt sicherlich nicht zuletzt darin begründet, dass Yoder in unvergleichlicher Einfachheit die These vertritt, dass das Leben und die Lehre Jesu relevant sind für die sozialpolitische Gestaltung der Gesellschaft. Wer Christus bekennt und die Wahrheit des Hereinbrechens seines Reiches glaubt, findet in den Zeugnissen des Neuen Testaments einen deutlich vorgezeichneten Aufruf zum Leben einer entsprechenden „messianischen Ethik“.
Yoder lässt sich nicht zuerst auf eine durch Jahrhunderte dogmengeschichtlich geprägte Christologie ein, noch vertraut er einer individualisierten, nach innen gerichteten Christusfrömmigkeit. Er behauptet schlicht: Das Evangelium von Jesus Christus ist eine Einladung zur Teilhabe am Reich Gottes. Die Annahme dieser Einladung verwirklicht sich in der konkreten Nachfolge Christi, die sich in jedem gegebenen und vorfindlichen politischen Kontext zuerst von dieser Größe ausgerichtet weiß. Das findet seine Entfaltung in der aktiven (!) Gewaltfreiheit, der Relativierung aller politischen Kräfte und Mächte sowie einer stets kritischen Solidarität gegenüber jeder Form von Regierung. Ein Hang zur Werkgerechtigkeit oder die Gefahr der Gesetzlichkeit kann einer solchen Ethik kaum vorgeworfen werden, denn sie weiß sich erst durch die Rechtfertigung allein aus Gnade durch den Glauben hierzu befreit. Die Botschaft von Jesus Christus (von der Inkarnation über das Leben und Sterben am Kreuz, bis hin zur Auferstehung) zielt – so Yoder – auf die Gestaltung dieser Welt und will als realistische Option inmitten der politischen Debatte verstanden werden.
In den internationalen wie innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen zu Beginn der 1970er Jahre musste eine solche „Provokation“ auf fruchtbaren Boden fallen. Im Grunde konnte es sich niemand leisten, dieser Herausforderung zum radikalen Ernstnehmen des Lebens Jesu auszuweichen: die Vertreter einer christlichen (nicht unbedingt jesuanischen) Ethik, die stets um die angepasste Übersetzung in die scheinbaren „Realitäten“ der politischen Umstände bemüht waren, ebenso wenig wie jene, die solch konsequente Lebensführung allein im Rückzug aus der Gesellschaft für lebbar hielten. Und für alle, die sich in ihrem christlichen Glauben längst bequem eingerichtet und mit den jeweiligen gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten arrangiert hatten, musste diese schlichte These ohnehin zum Ärgernis werden.
Entsprechend umfangreich und zum Teil höchst kritisch fielen die Reaktionen denn auch aus. Die Vorwürfe reichten von mangelndem exegetischen Sachverstand über „schlechte“ – weil die vielen wichtigen theologischen Schulen kaum berücksichtigende – Theologie, bis hin zu naivem Schwärmertum oder auch einer viel zu politisch-konkreten Auslegung des Evangeliums. – Im Grunde hatte Yoder damit erreicht, was einem Theologen wichtig sein muss: nicht zuerst die Auseinandersetzung mit irgend einer neuen Variation von Thesen. Vielmehr sahen sich alle Lager, ob konservativ oder progressiv, ob hochkirchlich oder kongregationalistisch ausgerichtet, ob eher ökumenisch-weltoffen oder evangelikal-innergemeindlich orientiert, anhand dieses Buches erneut der Provokation ausgesetzt, die sich in der Begegnung mit dem Leben Jesu selbst stellt. – Und eben das fasziniert letztlich.
Es dauerte mehr als zwanzig Jahre, bis John H. Yoder sich zu einer erweiterten Neuauflage überreden ließ, auf einige der Vorwürfe und Diskussionen eingehend, aber der ursprünglichen Aussage treu bleibend. In der englischsprachigen Welt gehört The Politics of Jesus längst in die Kern-Curricula der größten theologischen Schulen. Theologen aus nicht-mennonitischem Hintergrund haben Yoder neu entdeckt und interpretiert, vor allem Stanley Hauerwas, und so zu einer regelrechten Renaissance des Werkes im 21. Jahrhundert beigetragen. Unzählige Dissertationen sind zur Theologie Yoders verfasst worden, viele weitere sind in Arbeit, ein Ende ist nicht abzusehen. Keine davon lässt dieses Schlüsselwerk des Autors aus, auch wenn die dort zugrunde gelegten exegetischen Erkenntnisse längst durch neuere Forschungsergebnisse zu ergänzen wären. Der schlichten, manchmal aufregenden, manchmal ärgerlichen Provokation an sich tut das keinen Abbruch.
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