Dass Hausmann sich nicht von seiner Frau trennen konnte und wollte, evozierte bereits zu Anfang ihrer Beziehung Konflikte zwischen Hannah Höch und ihm. Doch der erste Schwangerschaftsabbruch führt zu einer Verschärfung der Auseinandersetzungen. Hausmann beginnt in seinen Briefen, Streit und Zwiespalt auf eine theoretische Ebene zu verschieben. Nach der Abtreibung geht es Hannah Höch gesundheitlich nicht gut. Aus der aufgewühlten Atmosphäre eines Gedichts, das sie kurz nach dem Eingriff an Raoul Hausmann richtet, spricht die psychische Anspannung, die der Abbruch in Hannah Höch auslöste. Expressionistische Sprachbilder evozieren eine düstere, todessehnsüchtige Stimmung; das lyrische Ich verwandelt sich in eine schwarze Schlange, die durch Kometen saust und von einer »Macht-Gestalt« verfolgt wird. Dem »Jäger« gelingt es schließlich, den »sprühenden« Schlangenleib zu fangen und zu halten. 40
Von ihrem Arbeitgeber erhält sie elf Tage Urlaub, den sie bei ihrer Familie in Gotha zu verbringen plant. Ihr Entschluss war Auslöser für einen erneuten Streit. Hausmann schildert in einem langen Schreiben, wie es zu dem jüngsten Zerwürfnis kam. Zunächst spricht er offen über seine Gefühle und bekennt: »– Ich wollte Dir zwischendurch einmal sagen: ich bin so eifersüchtig – Deine Familie hast Du 26 Jahre – wir haben uns noch nicht lange – und wie kurz erst wieder –. Hätte ich’s nur gesagt.« 41Wenigstens drei Tage solle Hannah Höch »heimlich mit ihm«, verbringen. Im letzten Teil des Briefes rückt er von der Beschreibung seiner Gefühle ab. Die folgenden Passagen enthalten Hausmanns Reflexionen über die Schriften des Psychoanalytikers und Freud-Schülers Otto Gross. In diesem Brief erwähnt er den Psychoanalytiker noch nicht namentlich. Später wird Hausmann Gross wie einen Propheten für seine Argumente gegen Hannah Höch zitieren, 42etwa wenn er schreibt: »– deshalb will ich Dir an den Worten von Otto Gross zeigen, was ich will und wollte.« 43Im Februar 1916 hatte Gross einen Essay »Vom Konflikt des Eigenen und Fremden« publiziert, den Hausmann intensiv studierte. 44
»[...] ich kämpfe für Dich – gegen Deinen Großvater und gegen Deinen Vater. Ich sehe und höre scharf, erst durch Deine Briefe jetzt hindurch, dann durch die Geschehnisse der letzten vergangenen Zeit und ich weiß: ich muß Dich aus den Täuschungen, die Dich von klein an umgeben, befreien. Das Recht dazu gabst Du mir selbst (weil Du mich liebst) [...] – Wenn Du Dir sagst, Du seiest nicht hart und egoistisch dann ist das wahr – und wenn Du hier keinen Weg zu mir fandest, trotzdem Du mich liebst und ich Dich – dann kann ich Dir nun sagen, was Dich hindert Vertrauen zu mir zu fassen: Dein Herkommen. Von der Art Mensch, wie Deine Väter. Die Du aber im Innersten nicht bist. Das ist der Zwiespalt, das ist was Dich lähmt, das ist Dein Kampf: sieh doch: Du , Du selbst, gegen Deine Väter. Du willst werden, was sie nicht sind: ein Mensch, der weiß, was das Leben ist, ein Mensch der den Doppelblick des Lebens ertragen kann. [...] Deine Väter sind gute, aber schwache Menschen, bei allem Ruheverlangen ohne innere Ruhe und Gewissheit, ohne das stolze Wissen: mir fällt alles, was das Leben geben kann, zu – denn ich biete mich selbst dagegen – ich schone mich nicht. – Darum kann ich Deine Väter nicht lieben. Und darum sollst Du wissentlich und willentlich mir vertrauen – mich vorziehen – und Du wirst nicht daran zu Grunde gehen – weil Du mich liebst.« 45
Den August 1916 verbringt Hannah Höch gemeinsam mit ihrer Mutter und ihren Schwestern in dem Ostseebad Brunshaupten. Hier will sie sich von den gesundheitlichen Folgen des Schwangerschaftsabbruchs erholen. Noch am Tag ihrer Abreise schreibt ihr Hausmann: »Nachdem ich Deine Hand losgelassen hatte und der Zug schon ein Stück vor mir fuhr – das tat weh, als würdest Du aus mir herausgerissen. Liebste, das war das letzte Mal, daß ich Dich fahren ließ.« 46Zunächst ist geplant, dass er sie dort besucht. Doch auf ein Informationsblatt, das die »Bestimmungen über den Verkehr in den Seebädern im Bereich des stellv. IX. Armeekorps« enthält, notierte Höch: »Vater schickte uns: Mutter, Grete, Anni u. mich nach Brunshaupten. Zu meiner grenzenlosen Enttäuschung kam dann Hausmann nicht, der sich erst angesagt hatte.« 47Zunächst hatte Hausmann vor, für einige Tage an die Ostsee zu kommen: »Liebste, werde mir gesund, schön, stolz – wenn ich komme werde ich geblendet sein.« 48Doch er traute sich offenbar nicht, ihrer Mutter zu begegnen: »Wie lange bleibt Deine Mutter? Wenn bis Ende, dann wird sie meine Ankunft wohl nicht erbauen.« 49Stattdessen fährt er Mitte August nach Böckele in Westfalen, auf das Rittergut von Herta König, wo sich auch seine Frau und seine Tochter aufhalten. Das konnte er Hannah Höch in seinen Briefen in das Seebad nicht ehrlich mitteilen. Als Hannah Höch ihn zur Rede stellt, antwortet er: »Liebe, meine Briefe sind durchaus einfach zu verstehen. Ich dachte, es würde Dir schmerzlich sein, mich in Westfalen zu wissen – nichts weiter wollte ich bitten mit dem ›stolz sein, lieb schreiben‹ – als daß Du in Gewißheit auf mich warten würdest.« 50
Im Zusammenhang mit Hannah Höchs Abtreibung wird ihr Vater für Hausmann zum Feindbild per se: »Töte Deinen Vater in Dir!«, appelliert er an die Künstlerin im Herbst 1916. 51Bei ihr stoßen solche Losungen auf Unverständnis und Abneigung. Die Verletzungen, die er durch seine radikalen Forderungen hervorruft, gehören zu seinem Erziehungsplan: »Darauf sagtest Du unter Tränen: er will mir wohl – erinnere Dich überhaupt jenes Tages, da haben wir das obenstehende ganz prinzipiell erlebt – ganz logisch und rein sah ich, was ich von Dir fordern muß – [...].« 52
Otto Gross verlagerte die Erkenntnisse der Psychoanalyse aus dem medizinischen und pädagogischen Bereich auf sein revolutionäres Gesellschaftsmodell. 53Sein sozialkritischer Ansatz brachte ihm erhebliche Kritik und den Widerspruch Sigmund Freuds ein. Gross entwickelte seine Theorie in einer Zeit, in der die Psychoanalyse in der Gesellschaft und in der Wissenschaft zusehends Anerkennung und Verbreitung erfuhr. 54Er war 1877 im österreichischen Gniebingen geboren. Sein Vater, ein bekannter Kriminologe, unterwarf ihn einer ausschließlich leistungsorientierten, strengen Erziehung. 55Um die Jahrhundertwende bewegt sich Gross in Münchens berüchtigtem Künstlerbezirk Schwabing in den Kreisen der Boheme und der Anarchisten, wo er unter anderem Erich Mühsam und dessen Freund, den sozialistischen Schriftsteller Franz Jung, kennenlernt. 1913 kommt Gross mit seiner Frau Frieda nach Berlin und schließt sich der von Pfemfert gegründeten Gruppe »Aktion« an. Zu dieser Zeit leidet Gross bereits unter den Folgen seiner Kokainabhängigkeit. Die Gefahr, die von Kokain als Droge ausgeht, wird in der Medizin gerade erst entdeckt. Nicht nur Sigmund Freud experimentiert mit den verschiedensten Darreichungsformen bei schmerzhaften Leiden oder setzt Kokain versuchsweise als Ersatzdroge ein. 56Im November 1913 wird Gross in Berlin verhaftet und »als geisteskranker Anarchist« aus dem preußischen Staatsgebiet abgeschoben. 57Auf Veranlassung seines Vaters wird er in Österreich entmündigt und gegen seinen Willen in verschiedene private psychiatrische Anstalten eingewiesen. Aus Anlass seiner Abschiebung und Zwangseinweisung beginnen seine Berliner Freunde, vor allem Franz Jung, eine öffentliche Kampagne, in der sie für seine Freilassung kämpfen. Ein wichtiges Mittel dieses Kampfes ist die von Franz Jung gegründete Zeitschrift »Die freie Straße«, deren erste Ausgabe er 1915 herausgibt und für die der Freundeskreis um Otto Gross verantwortlich zeichnet. 58Dazu gehören unter anderem der Journalist und Schriftsteller Richard Oehring und der Maler Georg Schrimpf. In der »Freien Straße« erscheinen Gross’ Texte über den pathologischen Zustand der Gesellschaft im Krieg. Die gesellschaftlichen Repressionen des Wilhelminismus betrachtete Gross als Spiegelbild patriarchal-autoritärer Familienstrukturen. So wie die autoritäre Familie die Psyche des Kindes zerstört, so leidet in der autoritär formierten Gesellschaft das Individuum.
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