Ich war zu überrumpelt davon, dass sie von meiner nächtlichen Aktion wusste, als dass ich mir kurzfristig eine schlaue Antwort hätte überlegen können. Die helle, strahlende Farbe ihrer blauen Augen irritierte mich. „Ich hab’s einfach gemacht, ohne darüber nachzudenken. Du wärst sonst aufgewacht. Und du hast …“ Ich brach den Satz ab. „Und du hast so friedlich geschlafen“, hatte ich sagen wollen. Aber dann hätte sie gewusst, dass ich sie im Schlaf beobachtet hatte. Das wäre irgendwie demütigend gewesen.
„Und ich habe ...?“ Sie sah über den Tisch zu mir herüber, aber ich starrte auf meine Serviette.
„Du hast geschlafen.“
„Als ob es dich interessiert hätte, wenn ich aufgewacht wäre – mach dich nicht lächerlich!“
„Es hätte mich interessiert.“
Sie schnaubte. „Wenn du etwas über mich wissen möchtest, dann frag doch einfach.“ Es lag Hoffnung in ihrer Stimme, ganz so, als würde ich wirklich anfangen, zu fragen. Vielleicht wollte sie, dass ich ihr alles erzählte. Aber das konnte ich nicht. Ihre klaren, blauen Augen sahen mich verständnislos an, als ich aufstand und den Stuhl zurückschob.
„Ich habe keinen Hunger mehr“, hörte ich meine Stimme sagen. Dann drehte ich mich auf dem Absatz um und ließ Lina allein am Tisch zurück. Sie blickte mir kopfschüttelnd nach.
„Du bist ein Arschloch“, sagte Cagney begeistert, als ich ihm erzählte, was passiert war.
Ich boxte ihn an die Schulter. „Ich kann mit der komischen Situation einfach nicht umgehen. Ich will sie nicht hier haben. Wegschicken will ich sie aber auch nicht.“
„So ist das mit den Weibern!“ Cagney zog den rechten Mundwinkel zu einem halben Grinsen in die Höhe.
Was ich gesagt hatte, war nicht die ganze Wahrheit. Ich tat, als wäre ich der edle Ritter, als sei Lina auf mich angewiesen, aber in Wirklichkeit brauchte ich sie genauso wie sie mich. Ihre Gesellschaft war ein Zeichen dafür, dass die Welt sich Tag für Tag weiterdrehte.
„Ich würde sie trotzdem wegschicken. Mit einem Tritt in den Arsch. Zumindest, wenn sie nervt.“
„Sie nervt.“
„Dann schick sie weg.“ Cagney beobachtete eine Reihe von Ameisen, die die Wände der Mülltonne emporkletterten, neben der wir uns auf dem Boden niedergelassen hatten. Er feuerte kleine Spuckfontänen auf die Tierchen ab und versuchte, sie damit zu ertränken, aber er verfehlte die Insekten. Sein Speichel bildete schleimige, kleine Pfützen auf dem Boden. „Blöde kleine Scheißviecher“, brummte er. Dann griff er in seine Hosentasche und förderte ein Päckchen Zigaretten zutage. Das Feuerzeug klickte, als er sich eine anzündete. „Ich bin keine Tussi“, sagte Cagney, obwohl das offensichtlich war. Er schnipste die Asche weg und begrub kaltherzig zwei Ameisen unter dem Haufen. „Wir könnten reden.“
„Du könntest reden. Vielleicht kann ich dir helfen.“ Ich stocherte mit der Schuhspitze in die Ameisenstraße auf dem Boden. „Für immer können deine Eltern dich nicht hassen.“
„Da ist die Königin“, sagte Cagney und deutete auf ein im Vergleich zu seinen Artgenossen riesiges Insekt mit Flügeln. Er lenkte vom Thema ab.
Ich sprang darauf an. „Die Ameisenkönigin ist arm dran. Wusstest du, dass sie nur dafür lebt, Eier zu legen? Den ganzen Tag. Immer. Sie sichert das Fortbestehen des Stammes“, setzte ich ihn in Kenntnis.
Er sah mich stirnrunzelnd an und antwortete: „Kein sehr schönes Leben.“ Vorsichtig nahm er das Tierchen auf die Hand.
„Vielleicht wird sie wiedergeboren. Als etwas viel Besseres. Oder sie war in ihrem vorherigen Leben ein Schwerverbrecher und das ist ihre Strafe.“
„Alter, Ben, wie schräg bist du denn bitte? Du glaubst doch nicht ernsthaft an Wiedergeburt und so einen Mist?“ Er entließ unsere Ameisenkönigin zurück in die Freiheit.
Ich fragte mich, wo ihr Nest war. „Wieso nicht?“
„Weil es keinen Sinn macht.“
„Natürlich macht es Sinn. Alles, was du in diesem Leben ertragen musst, wird im nächsten Leben belohnt. Oder andersherum. Es ist absolut logisch.“
Cagney antwortete nicht mehr und ich beobachtete die untergehende Sonne, die den verdreckten kleinen Hinterhof in warme, rote Farben tauchte. Wir saßen still nebeneinander.
Erst Minuten später antwortete er: „Es ist falsch, Ben. Du hast ein Leben. Eine Chance. Du kannst was daraus machen. Oder du kannst deine Chance verspielen und hoffen, dass in deinem angeblichen nächsten Leben alles besser wird. Aber egal, was dir passiert ist: Es wird dich nicht davor retten, dich auf deinen Arsch zu setzen und dir Mühe zu geben. So läuft das nun mal.“
Ich starrte in die Sonne, bis das Einzige, was ich hinter meinen Lidern noch erkennen konnte, springende rote und grüne Punkte waren. Cagney schien noch immer über das Leben zu sinnieren. Schon wieder steckte er sich eine Kippe an. „Wenn es nur ein Leben und eine Chance gibt, warum bist du dann hier?“, fragte ich ihn.
Er zuckte mit den Schultern. „Es ist alles nicht so einfach, Ben.“
„Warum rauchst du, wenn du nur ein Leben hast und Zigaretten dich krank machen?“, fuhr ich fort, aber Cagney winkte ab.
„Weil es egal ist. Weil meine Chance verstrichen ist.“
Als ich weit nach ein Uhr die Zimmertür aufschob, lag Lina mit offenen Augen in der Dunkelheit und starrte an die Decke. Sanft zog ich die Tür hinter mir zu. „Was machst du da?“, fragte ich sie flüsternd.
„Ich kann nicht schlafen“, gab sie knapp zurück.
Ich fühlte mich schlecht, weil ich mittags einfach abgehauen war. „Es tut mir leid, dass ich einfach gegangen bin. Und dass ich den Anruf weggedrückt habe.“ Ich flüsterte noch immer.
„Es ist nicht schlimm. Dein Essen war lecker.“
Ich lachte leise. Sie warf mir einen Blick aus ihren kristallklaren blauen Augen zu, den ich nicht deuten konnte. In der Dunkelheit sah ich, wie Lina ihr Gesicht im Kopfkissen vergrub. „Lina?“ Immer noch flüsterte ich, obwohl kein Anlass dazu bestand.
„Hm?“
„Was ich dir gesagt habe, über Glück und all das – denkst du, es ist Blödsinn?“
Sie drehte sich in meine Richtung und legte den Kopf auf dem Unterarm ab. „Wieso fragst du das?“
Im abgedunkelten Zimmer sah ich nur die Silhouette ihres Körpers unter der dünnen, weißen Decke.
„Warum?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, warum.“
„Ich glaube nicht, dass es falsch ist. Ich finde die Vorstellung schön, dass jeder das kriegt, was er verdient. Das spendet Trost, oder?“
Ich nickte, und als mir auffiel, dass sie mich nicht sehen konnte, war sie bereits verstummt und mit dem Kopf müde auf das Kissen gesunken.
Ich musste lächeln. „Schlaf gut, Lina.“ Es störte mich nicht, dass sie mich nicht mehr hören konnte.
*
Mai
Die Zimmertür, an die ich jeden Tag mindestens einmal klopfte – mal entschlossen, mal zaghaft – trug die Zimmernummer 27. Als die Tür von innen geöffnet wurde, waren es aber nicht Bens Schokoaugen, die in meine blickten.
„Abend“, sagte die tiefe Stimme, die dem südländisch aussehenden Fremden gehörte, der mir gegenüber stand. Der Fremde war gebräunt und muskulös, sein Blick hatte etwas Spielerisches.
„Ähm. Abend“, erwiderte ich verunsichert. Er machte einen Schritt zur Seite und gab mir dadurch den Weg frei. Beim Reingehen stolperte ich über die Schwelle und Ben, der selbstverständlich rauchend am Fenster stand, grinste blöd.
„Das war dann wohl mein Stichwort“, sagte der Fremde. Er räusperte sich. Es war mehr als deutlich, dass er sich unwohl fühlte in meiner Gegenwart.
Ben stieß sich vom Fensterbrett ab und schnippte den Zigarettenstummel nach unten auf die Straße. „Sie beißt nicht“, sagte er mit einem Seitenblick auf mich. Sein blödes Grinsen klebte ihm noch im Gesicht, während sich bei seinem Freund nur der rechte Mundwinkel hob und sein Lächeln ihm beinahe schief im Gesicht zu liegen schien, so, als hätte er vergessen, auch den linken Mundwinkel in die Höhe zu ziehen.
Читать дальше