Am selben Tag begann ich also damit, Arbeit zu suchen. So lernte ich Cagney kennen, denn wenige Minuten später fand ich mich vor dem Straßenverkauf wieder, an dem Lina und ich unsere Pizzen gekauft hatten. Hinter dem Glasfenster, durch das die Mahlzeiten herausgereicht wurden, stand ein Mann in meinem Alter. Er war damit beschäftigt, die Plastikfolie von verschiedenen Tiefkühlpizzen abzuziehen. Seine braun gebrannten Arme waren muskulös, die Locken schwarz und verschwitzt. Er sah italienisch aus. „Hey“, rief ich, nachdem ich an die Scheibe geklopft hatte.
Er sah auf und wollte mich mit einem Nicken dazu auffordern, zu bestellen. Ich schüttelte den Kopf. „Was ist los?“, fragte er genervt, ohne damit aufzuhören, die Folien der Tiefkühlwaren zu zerschneiden.
„Braucht ihr zufällig jemanden hier?“, fragte ich ihn. „Eine Aushilfskraft?“
Er kam näher und verzog das Gesicht zu einem spöttischen Grinsen. „Junge, sieht der Scheißladen für dich vielleicht so beliebt aus, dass ich Verstärkung bei meiner Schicht bräuchte?“
„Nein.“ Ich legte den Kopf schief. „Aber vielleicht könnte ich eine andere Schicht übernehmen.“
Er winkte mich rein. Als ich in den kleinen Innenraum eintrat, mussten sich meine Augen erst an das gedimmte Licht gewöhnen, dass dort herrschte. Es roch nach verbranntem Käse und Schweiß. Der Mann kam auf mich zu und wischte sich die Hände an der Schürze ab, auf der in Regenbogenfarben Luigi’s Pizza-Imbiss stand. Dann hielt er mir seine Rechte hin. „Cagney“, stellte er sich vor, als ich seine Pranke schüttelte. Ich starrte auf seine Schürze und er folgte meinem Blick. „Ich weiß, es ist lächerlich. Mein Boss heißt nicht mal Luigi, er tut nur so. Wirklich. Er tut so. Es ist komplett bescheuert.“ Cagney schüttelte den Kopf und stöhnte. „Gestern hat mich seine Cousine bei ihm angeschwärzt, weil ich sie beleidigt habe. Weil sie hässlich ist.“ Als ihm auffiel, dass seine riesige Hand noch immer meine schüttelte, ließ er sie hastig fallen. „Na ja, auf jeden Fall werde ich nicht gefeuert. Und willst du wissen, warum?“ Er sprach schnell und ich konnte ihm kaum folgen. Ich sah ihn fragend an und sein Grinsen wurde noch breiter. „Weil ich italienisch aussehe. Kannst du dir das vorstellen?“
Ich stimmte kopfschüttelnd in sein Gelächter ein, denn diese Geschichte war wirklich köstlich. Als wir uns beide wieder eingekriegt hatten, versprach Cagney: „Ich kann mal fragen, ob jemand gebraucht wird. Nur als Vorwarnung: Du wirst jeden Tag stinken und in Depressionen verfallen.“ Cagney hinterließ seinem Boss eine Notiz und bot mir dann eine Zigarette an. Er führte mich um den Imbiss herum in einen kleinen Hinterhof, in dem sich hauptsächlich riesige Mülltonnen aneinanderreihten. Das Kopfsteinpflaster war verdreckt und aus den Mülltonnen strömte ein widerlicher Geruch nach Fäulnis. „Die Hochphase des Gestanks ist in den Sommermonaten. Du kannst dich also noch glücklich schätzen“, erklärte er mir trocken. Er ließ sich auf der kleinen Treppe neben den Mülltonnen nieder und klopfte neben sich auf das Pflaster. Ich setzte mich zu ihm und ließ mir die Zigarette von ihm anzünden. „Was hast du erlebt, dass du so verzweifelt auf der Suche nach einem Job bist?“, fragte Cagney. Er schnipste die Asche von seiner Zigarette.
Mein Blick folgte den feinen, schwarzen Partikeln, als sie durch die Luft flogen und vor uns auf dem verschmutzten Boden landeten. „Nichts. Ist es falsch, auf der Suche nach einem Job zu sein?“, fragte ich.
Cagney sah mich argwöhnisch an. „Nein“, entgegnete er, schloss genüsslich die Augen und zog an der Kippe. „Nein. Aber ich kenne die Menschen. Glaub mir. Ich schätze dich … Warte, lass mich nachdenken.“ Er begann, mich von der Seite zu beäugen, als könnte er durch die Betrachtung meines Profils meine Lebensgeschichte in sich aufsaugen. „Ich schätze dich auf 20, vielleicht 21. Mit 21 ist man nicht an dem tragischen Punkt im Leben, an dem man sich um einen Job bei einem stinkenden Fast Food-Restaurant bemüht. Da hat man noch Feuer. Man hat Hoffnungen. Träume.“
Ich schluckte und entschloss mich dazu, seine Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten. „Wo sind deine Hoffnungen und Träume, wenn ich fragen darf?“
Cagney zuckte mit seinen breiten Schultern und bemühte sich um einen gleichgültigen Gesichtsausdruck. „Für mich hat es sich ausgeträumt.“
*
Mai
„Du stinkst nach Pizza, verdammt.“
Max war es schon immer sehr wichtig gewesen, brutal und böse auszusehen. „Sonst hat man keine Chance in dieser Branche und geht unter“, sagte er ständig.
„Pizza stinkt nicht“, antwortete ich unbeeindruckt. „Es ist Pizza.“
„Mag sein, dann stinkst du nach was anderem. Wie viel brauchst du?“ Max hatte ein neues Tattoo, es war so frisch, dass das Pflaster noch darauf klebte. Er hatte sich einen monströsen Schlangenkopf auf den Oberarm tätowieren lassen, das erkannte ich trotz des großen Pflasters. Jedes Mal, wenn wir uns trafen, sah er tatsächlich ein bisschen furchteinflößender aus. Aber das konnte auch an den Drogen liegen.
„Zwei Gramm sollten reichen.“
Max sah sich um, bevor er mir das Tütchen gab. Bei ihm sah es immer aus, als würde er sich nur kurz zur Seite drehen, aber in Wirklichkeit checkte er in diesen zwei Sekunden die ganze Lage auf der Straße. Wie er das machte? Keine Ahnung, jahrelange Übung wahrscheinlich. Ich ließ das Tütchen in meine Jackentasche gleiten. Knisterte schon verheißungsvoll, versprach einen nicht ganz so beschissenen Abend. Wenigstens hatte ich das Gras. Mit einem kurzen Nicken bedankte ich mich bei Max und griff nach den Scheinen, die ich bereitgelegt hatte. Für mich war es das Ende unseres Geschäfts, für Max aber nicht. Es war jedes Mal dasselbe. Deshalb war Max für alle nur Kaiser Max. Er hatte Stoff, er hatte immer alles – und versuchte ständig, einem etwas anzudrehen, was man eigentlich nicht haben wollte.
Auch jetzt berührte er meine Schulter und glotzte mich an. Wie ein Fisch sah er aus, wenn er so dämlich glotzte. Wie ein ziemlich hässlicher Fisch. „Willst du dich mal unbeschwert fühlen? Bock auf Speed? Ecstasy?“ Er nahm die Scheine entgegen.
Ich schüttelte den Kopf. „Vielleicht irgendwann mal.“
„Du meldest dich bei mir, wenn es so weit ist, klar?“
„Klar.“
Kaiser Max huschte davon, ich lief in die entgegengesetzte Richtung. Meine Wohnung war einsam und dunkel, ich fragte mich, ob ich bei meinem nächsten Drogenkauf Speed probieren sollte. Meine Wohnung – einsam, dunkel, eigentlich todtraurig, aber das würde ich niemals zugeben. Ich wusste nicht, was ich wollte, aber wenn ich das sagte, dann redete ich nicht nur von Speed oder Ecstasy. Denn eigentlich war ich mir selbst ein Fremder.
*
Mai
Cagney war ein komischer Kauz. Wenn er rauchte, hörte er nicht beim Filter auf, sondern sog die Giftstoffe umso genüsslicher durch die Atemwege in die Lunge. Er war kein Italiener, obwohl ihm sein südländisches Aussehen den Job bei Luigi verschafft hatte – den er laut eigenen Angaben am liebsten stündlich hinschmeißen würde. Ständig sprach er davon, dass er selbst Geld verdienen müsste, weil er seine Eltern enttäuscht habe und nicht mehr auf deren Unterstützung zählen könne. Inwiefern er eine Enttäuschung war, wollte er mir nicht verraten.
Wenn unsere Schichten aneinandergrenzten, rauchten wir gemeinsam auf dem stinkenden Hinterhof. Bald entwickelten sich aus den gemeinsamen Raucherpausen zarte Anflüge einer Freundschaft. Und dann kam der Tag, an dem Cagney mir seine Geschichte erzählte. Der Imbiss war schon wie ausgestorben, als ich reinkam, um Cagney abzulösen. Unsere Schichten grenzten dienstags und sonntags aneinander, und Cagney hatte mich schon von Beginn an darüber aufgeklärt, dass die Zahl der Menschen, die das Bedürfnis nach fettiger Tiefkühlpizza á la Luigi hatten, sich grundsätzlich auf ein Minimum beschränkte.
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