Ich wandte den Blick wieder ab und sah zum Fenster. Mittlerweile war es so dunkel, dass man die Landschaft, die draußen vorbeizog, kaum mehr ausmachen konnte. Das Zugabteil spiegelte sich in der Scheibe. Es war fast niemand mehr unterwegs, ich sah nur das lesende Mädchen und einen heruntergekommen aussehenden Mann mittleren Alters, der sich auf seinem Sitz zusammengerollt hatte und zu schlafen schien. Durch die Lautsprecher vernahm ich eine Frauenstimme, die die Endstation ankündigte. Ich seufzte. Das fremde Mädchen leerte ihren Pappbecher in hastigen Zügen, schlug das Buch zu und verstaute es in ihrer Handtasche. Als der Zug langsamer wurde und wir uns mit unseren Gepäckstücken erhoben, stand sie direkt hinter mir am Ausgang. Ich sprang auf den Bahnsteig, der in das Licht weniger Laternen getaucht war, und sah mich zu ihr um. Jetzt sah sie mich nicht mehr an, hob ihren Koffer auf die Straße und hüpfte aus dem Zug. Ich setzte mich unter die Überdachung, die abkühlende Luft brachte mich zum Frösteln. Sobald alle Menschen das Gleis verlassen hatten, fühlte ich mich ruhiger. Während ich nach meinen Zigaretten kramte, warf ich einen flüchtigen Blick auf die Uhr. 23:01 Uhr.
„Feuer?“ In der Nacht leuchtete ein Feuerzeug auf. Die Flamme erleuchtete das Gesicht des Mädchens aus dem Zug. Überrascht nahm ich ihr das Feuerzeug aus der Hand und zündete mir meine Zigarette selbst an. Sie zog ihren Koffer unschlüssig hinter sich her, bevor sie ihn schulterzuckend abstellte und sich neben mir auf einem der Stühle niederließ. Natürlich hätte ich ein Gespräch beginnen können, und die meisten Menschen hätten das in diesem Moment wohl auch von mir erwartet. Aber mir war nicht danach und ich hatte kein Problem damit, in der Dunkelheit neben ihr zu sitzen und schweigend meine Zigarette zu rauchen. Ich beobachtete, wie die Zeiger meiner Uhr von 23:01 Uhr auf 23:02 rückten. Das Mädchen strich sich die dunklen Locken aus dem Gesicht und sah in die Ferne. Entgegen meiner Erwartung, aufzustehen und sich zu verabschieden, blieb sie sitzen, noch immer ohne ein Wort zu sagen. Ich hätte sagen können, dass es schon spät war. Dass ich langsam nach Hause gehen sollte. Doch das wäre wohl eine Lüge gewesen, denn weder war es für mich spät noch musste ich nach Hause. Ich hatte kein Zuhause.
„Du bist wohl auch nicht sonderlich scharf darauf, nach Hause zu kommen, was?“, meinte sie dann unvermittelt und rutschte unbehaglich auf ihrem Sitz herum.
„Ist eine längere Geschichte“, erwiderte ich ausweichend.
Sie nickte langsam. Sie sagte nicht, dass sie Zeit habe und meine Geschichte hören wollte. Ich war froh darüber.
„Na ja, ich pack’s“, kündigte sie wenige Minuten später an. Dann hängte sie sich ihre Handtasche um die Schulter, zog ihren Koffer hinter sich her.
Ich sah ihr nach und lauschte auf das Klackern der Rädchen ihres Gepäckstücks. Zurück blieb nur der schwache Geruch ihres Parfüms. Ich blieb einfach sitzen und lauschte in die Nacht. Der Bahnsteig war vollkommen leer und die Luft weiter abgekühlt. Es war so neblig, dass ich keinen einzigen Stern erkennen konnte, als ich meinen Kopf hob und in den Himmel starrte. Dann begann es zu regnen. Die Tropfen klopften gleichmäßig auf die Überdachung, bald glitzerte der Boden vor Feuchtigkeit und schmale Rinnsale bildeten sich zu meinen Füßen. Ich war ganz ruhig, während meine Augen sich mit Tränen füllten, die ich ärgerlich mit meinem Jackenärmel fortwischte. Ziemlich lange blieb ich ganz genau dort, wo ich mich hingesetzt hatte, vermutlich bewegte ich mich nicht einmal. Stillstand. Einige Zeit verging, in der ich nicht die Kraft fand, mich aufzurichten, meine Gitarre und meine Reisetasche vom Boden aufzuheben und mich entlang des dunklen, verlassenen Bahnsteigs in Bewegung zu setzen.
Reisen war für mich immer etwas Aufregendes gewesen, das Unbekannte und Unentdeckte hatte mich fasziniert. Heute wusste ich nicht, was mich faszinierte. Wahrscheinlich war das normal. Meine Mutter hatte mir früher immer die Geschichte von Peter Pan und den verlorenen Kindern aus Nimmerland vorgelesen. Als ich erfahren hatte, dass die Kinder in Nimmerland blieben, um niemals erwachsen werden zu müssen, hatte ich mir vorgestellt, wie Peter Pan eines Nachts auch durch mein Fenster fliegen und mich mitnehmen würde, um auch mein Erwachsenwerden zu verhindern. Mein Wunsch war niemals in Erfüllung gegangen.
Diese großen Vorstellungen, die man als Kind von seinem Leben und seiner Zukunft hat, werden immer blasser und verschwinden irgendwann gänzlich, wenn die Zeit vergeht und man älter wird. Und dann geht es nicht mehr darum, etwas Großartiges zu sein oder zu erreichen. Irgendwann verabschiedet man sich von dem Gedanken, berühmt oder besonders zu sein oder die Welt verändern zu können. Denn irgendwann wacht man auf und ist weder Peter Pan noch ein Mitglied seiner niemals alternden Bande. Dann erst realisiert man, dass man niemand anderen hat außer sich selbst – und dass man irgendwie trotzdem klarkommen muss mit seinem verdammt beschissenen Leben und all den zerschlagenen Träumen, die vor einem auf dem Boden liegen wie winzige, spitze Glasscherben. Da muss man sogar noch aufpassen, dass man sich nicht blutig schneidet. Ein Geräusch schreckte mich auf. Schon wieder die Rädchen eines Koffers auf dem Asphalt, dazu hastige Schritte. Ein paar Sekunden später konnte ich den Körper der Unbekannten aus dem Zug ausmachen, der sich zögernd auf mich zubewegte. „Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll“, gestand sie leise.
„Ich weiß auch nicht, wohin ich gehen soll“, entgegnete ich.
Ihre blauen Augen sahen direkt und unverblümt in meine. Dann streckte sie die Hand aus, und meine rauen Finger umfassten ihre fast vollständig, als ich ihr die Hand schüttelte. „Ich bin Lina“, stellte sie sich vor.
„Ben.“
Fröstelnd verschränkte sie die Arme vor der Brust. Ich saß noch immer auf meinem Stuhl, sie stand vor mir in der Dunkelheit. Das war der Abend, an dem ich Lina traf. Der Abend, an dem sich alles für immer verändern würde.
*
Mai
Ich kannte ihn nicht, wusste aber trotzdem sofort, dass er mich nicht gebrauchen konnte. Eilig hatte er es trotzdem nicht. Während über ihm der Regen auf die Überdachung prasselte, hatte er die Beine lang vor sich ausgestreckt und rauchte.
„Und jetzt?“, fragte ich, als ich die Stille nicht mehr ertragen konnte. Die Laternen beleuchteten den Bahnsteig nur dürftig, umso heller leuchtete das Feuerzeug auf, als er sich eine weitere Zigarette anzündete.
„Wie, und jetzt?“ Seine dunkelbraunen Locken hätten einen radikalen Schnitt vertragen können – seine Frisur konnte nicht einmal mehr wirklich als Frisur bezeichnet werden.
„Was machen wir jetzt?“
Ben sah mich stirnrunzelnd an. „Es gibt kein wir“, stellte er dann kopfschüttelnd klar.
Schon im Zug war mir aufgefallen, wie schlaksig er war. Doch erst jetzt, als er direkt neben mir saß, erkannte ich, wie mager er tatsächlich war. Es war die Art des Magerseins, bei der man Lust bekam, ihn in der Küche einzusperren und ihm eine riesige Portion Hühnersuppe einzuflößen. Aber er war sehr groß und hatte schöne, braune Augen. Schokoladenaugen.
„Wir machen einen Deal“, erklärte Ben mir dann. Er wippte unruhig mit den Füßen, die in schmutzigen, durchgelaufenen Turnschuhen steckten. „Wir sind Partner für diese Nacht. Aber wir stellen keine Fragen.“ Er ließ die Kippe fallen und trampelte halbherzig darauf herum, obwohl der Asphalt vor Feuchtigkeit glitzerte.
Ich mochte, was er da sagte, mochte, dass er keine komplizierten Fragen stellen und keine schwierigen Gespräche beginnen wollte. Also nickte ich.
„Ja?“, vergewisserte er sich.
Ich musste lächeln, konnte nicht einmal etwas dagegen tun, meine Mundwinkel bogen sich in die Höhe beim Anblick seiner hochgezogenen, buschigen dunklen Augenbrauen über den Schokoaugen. „Ja.“
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