Im Jahr 1825 las Newman Bischof Butlers Analogy of Religion und war tief von den Analogien und Ähnlichkeiten beeindruckt, die Butler zwischen den Werken Gottes, wie sie sich in der Natur zeigen und wie sie durch die Offenbarung bekannt sind, herausarbeitete. Hier stieß er auch auf die Lehre von der sichtbaren Kirche, »die die Wahrheit verkündet und Vorbild für die Heiligkeit ist und zu der die Pflichten äußerer Religionsausübung und der historische Charakter der Offenbarung gehören«. 22Schon in den ersten Jahren in St Clement’s predigte Newman über die »Sichtbarkeit« der Kirche und über ihren »katholischen« und »apostolischen« Charakter, was Samuel Wilberforce, der sich in dieser Zeit eine Predigt Newmans anhörte und wie sein Vater, der bekannte Philanthrop, dem Evangelikalismus anhing, voll Überraschung bemerkte.
Als Newman Ostern 1826 die Stelle eines Tutors (verantwortlich für wissenschaftliche und für die pastorale Betreuung der Studenten, Anm. d. V.) am Oriel College erhielt, gab er seine Pfarrei auf. Etwa zur gleichen Zeit wurde Richard Hurrell Froude, ein glühender Anhänger der hochkirchlichen Richtung, zum Fellow des Oriel College gewählt. Noch stand Newman mehr oder weniger stark unter evangelikalem Einfluss, wenn auch die liberale Atmosphäre des Oriel College nicht ohne Wirkung auf ihn geblieben war. So kam es, dass fast ein Jahr verging, bis die beiden zu engen Freunden geworden waren. Newman hatte jedoch bereits einen anderen Hochkirchler, E. B. Pusey, der 1823 zum Fellow des Oriel College gewählt worden war, kennen- und bewundern gelernt, doch verließ dieser bald Oxford, um in Deutschland seine Studien fortzusetzen, wo er sogar mit dem Liberalismus liebäugelte. Froude war Schüler John Kebles, und diese beiden repräsentierten die alte hochkirchliche Tradition in ihrer edelsten Form, aber auch Keble hatte 1823 das Oriel College verlassen, um seinen Vater in dessen Landpfarrei in Fairford zu unterstützen. So lernte Newman hochkirchliche Auffassungen vor allem durch Hurrell Froude kennen, obwohl sich dieser rühmte, die beste Tat seines Lebens habe darin bestanden, Newman und Keble zum gegenseitigen Verständnis geführt zu haben. Froude war einer der ersten gläubigen Engländer dieses Jahrhunderts, der die römische Kirche wirklich begriff und zu würdigen vermochte. Er konnte nicht glauben, dass Newman wirklich der Meinung war, sie stünde unter dem Einfluss des Antichristen. Für ihn war die kirchliche Tradition und nicht in erster Linie die Bibel das Mittel zur religiösen Unterweisung. Für die Reformatoren hatte er nichts übrig, während die theokratische Kirche des Mittelalters seinem Ideal entsprach. So brachte er Newman allmählich dazu, die Reformation in einem anderen Licht zu sehen und der Kirche von Rom mit Verständnis gegenüberzutreten. Für Froude war die Verpflichtung der Christen zum heiligmäßigen Leben ein hoher Wert. Er war es, der Newman lehrte, die Lehre von der Realpräsenz anzunehmen und die Gottesmutter zu verehren. Schließlich war es Froude zu verdanken, dass Newman die Lehre von der apostolischen Sukzession übernahm, nach der der Kirche und ihren Bischöfen Autorität und Vollmacht aufgrund ihrer geschichtlichen Verbindung mit der Kirche der apostolischen Zeit zukommt. So erreichte Newman die von anglikanischen Theologen des 17. Jahrhunderts entwickelte alte und gläubige hochkirchliche Lehrmeinung durch Froude und Keble, doch waren diese beiden die Vertreter eines nur sehr kleinen Teils der Kirche von England.
Der natürliche Gegenspieler des Evangelikalismus unter den Anglikanern, der sowohl im intellektuellen als auch im kirchlichen Bereich eine Alternative dazu darstellte, war der religiöse Liberalismus. Am Oriel College war diese Richtung durch Whately, Thomas Arnold und R. R. Hampden eindrucksvoll vertreten. Daneben waren auch die alten verknöcherten Erastianer hochkirchlicher Prägung gegen den Evangelikalismus, doch hatte sich Newman niemals zu ihnen hingezogen gefühlt. Ein Merkmal der weitherzigen Liberalen war es, das Übernatürliche in der Religion herunterzuspielen. Natürliches Gutsein und Anstand reichten in ihren Augen völlig aus, sodass für das Wirken Gottes nur noch wenig Raum blieb. Konsequenterweise behandelten sie die göttliche Gnade und die Sakramente mit Geringschätzung. Zu dieser Art von »Liberalismus« fühlte sich Newman zunächst hingezogen, als sich sein Evangelikalismus verflüchtigte, doch wurde er nach seiner eigenen Meinung schließlich durch die Verehrung, die er für die alten Kirchenväter empfand, davor bewahrt.
Bereits zur Zeit seiner Bekehrung im Jahr 1816 hatte ihm Mayers ein Exemplar der Kirchengeschichte des Anglikaners Joseph Milner gegeben, und er hatte mit freudigem Interesse die langen Auszüge aus den Werken des hl. Augustinus, des hl. Ambrosius und anderer Kirchenväter gelesen. So war er bereits in jungen Jahren mit der Gedankenwelt der frühen Kirche in Berührung gekommen, sodass er in seiner letzten (1850 gehaltenen) Vorlesung über die »Schwierigkeiten der Anglikaner« (Difficulties of Anglicans) sagen konnte:
»Nie ist der tiefe und äußerst freudige Eindruck, den seine Skizzen des hl. Ambrosius und des hl. Augustinus bei mir hinterlassen haben, verloren gegangen, ja auch nur geringer geworden. Seit dieser Zeit war der Gedanke an die Kirchenväter für meine Vorstellungswelt, wenn ich das so sagen darf, ein Quell des Entzückens, zu dem ich meine Gedanken immer wieder zurückkehren ließ.« 23
In der Apologia bekannte Newman, sich nicht mehr erinnern zu können, »wann ich zum ersten Mal den wahren Inbegriff der Lehren des Christentums und die Grundlage der englischen Kirche im Altertum zu erblicken lernte«. 24Wenn auch seine liberalen Neigungen seinen Respekt vor den Kirchenvätern etwas verringerten, so trieb er doch eine Reihe von Studien auf diesem Gebiet, als er in das Oriel College gewählt wurde, und die ersten Jahrhunderte wurden ihm zum Idealzustand der Christenheit. Im Jahr 1825 schrieb er für die Encyclopaedia Metropolitana einen Artikel über Apollonius von Tyana sowie einen Aufsatz über die a priori gegebene Wahrscheinlichkeit der Wunder im Neuen Testament. Ferner plante er für die Encyclopaedia eine Geschichte der ersten drei Jahrhunderte der Christenheit. Im Jahr 1827 beauftragte er den in Deutschland weilenden Pusey, ihm so viele Bände der Kirchenväter wie möglich zu kaufen, welche er im darauffolgenden Jahr während der großen Ferien, mit Ignatius und Justin beginnend, chronologisch zu lesen begann. Zunächst las er sie mit den Augen eines Protestanten und suchte nach den umstrittenen Lehren seiner eigenen Zeit. Später wurde ihm jedoch bewusst, dass ihm auf diese Weise die Hälfte ihres Sinns entgangen war. Dennoch waren diese intensiven patristischen Studien für Newman der Schlüssel dazu, die christliche Offenbarung in ihrer ganzen Fülle wiederzuentdecken. Die Heilige Schrift hatte er bereits studiert und kannte große Teile von ihr auswendig; nun stand ihm auch die zweite große Schatzkammer offen.
Newman meinte jedoch später, dass, noch bevor seine neuen Studien voll hatten zur Wirkung kommen können, zwei andere Ereignisse ihn durch Gottes Führung davor bewahrten, sich ernsthaft dem religiösen Liberalismus zuzuwenden. Das erste dieser beiden Ereignisse war im Herbst 1827 eine durch Überarbeitung hervorgerufene schwere Erkrankung, nach der er sich zur Erholung in das Haus von William Wilberforce begab. Das zweite Ereignis war der plötzliche Tod seiner geliebten jüngsten Schwester Mary in Brighton, wo seine Mutter nun wohnte. Newman hatte ein herzliches Verhältnis zu seinen Schwestern, Mary aber war sein Liebling gewesen und ihr Tod am 5. Januar 1828 im Alter von neunzehn Jahren war ein schwerer Schlag. Er weckte in ihm erneut die deutliche Vorstellung von einer nicht wahrzunehmenden Welt, unsichtbar, aber wirklicher als die materielle Welt, die nur deren Schleier ist. Im Gedenken an Mary schrieb er seiner Schwester Jemima: »Was für ein Schleier, was für ein Vorhang ist diese Welt der Sinne! Schön, aber dennoch nur ein Schleier!« 25
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