Die einzige Gruppe, die die Kirche wirklich als eine göttliche und vom Staat unabhängige Einrichtung betrachtete – die extrem hochkirchliche Richtung – war sehr klein. Sie hielt weiterhin an der Lehre von der apostolischen Sukzession fest, hatte aber auf die übrigen Anglikaner und die Gesellschaft im Allgemeinen nur geringen Einfluss. In liturgischen Dingen war auch diese Gruppe protestantisch und benutzte z. B. nicht die vom Book of Common Prayer 8sanktionierten liturgischen Gewänder. Die Anhänger dieser Gruppe fand man in ein paar Landpfarreien und Bischofsstädten. Im Jahr 1834 bemerkte Newman, F. W. Hook in Coventry sei der einzige hochkirchliche Pfarrer in einer größeren Stadt, und dieser sah sich einer beträchtlichen Opposition vonseiten der dortigen Evangelikalen gegenüber.
Die protestantische Ausprägung des Christentums herrschte unter den Engländern vor und führte in hohem Maß zu Frömmigkeit, Moral und Philanthropie, wenngleich Letztere leider gelegentlich unschöne und herablassende Formen annahm. Der englische Protestantismus war betont antikatholisch und viele glaubten allen Ernstes, dass die römische Kirche mit der Sache des Antichristen verbunden sei. Zur wirklich intellektuellen Verteidigung des Glaubens hatten die Evangelikalen nichts beizusteuern. Andererseits verließen sich die Latitudinarier auf eine oberflächliche natürliche Theologie. Beide Richtungen beteten das Credo und bekannten sich zum Glauben an die katholische Kirche, doch hatten weder Substantiv noch Adjektiv hier irgendeine präzise Bedeutung.
Die christliche Religion erhebt den Anspruch, auf göttlicher Offenbarung zu beruhen, und nur dann, wenn sie getreu das Wort des Offenbarers bewahrt, vermag sie ihre Kraft voll zu entfalten. Wenn die Botschaft verändert oder vereinseitigt wird, muss sie im gleichen Maß versagen, ein Zerrbild ihres wahren Wesens darbieten und jene abschrecken, die sie anziehen sollte. Es gab viel Christliches im England des Jahres 1832, genug, um Newman sagen zu lassen, dass »bislang kein Volk eine bessere Kenntnis von der rechten Art, Gott zu dienen«, hatte, aber wie viel fehlte von dem, was wesentlich war, und wie viel gab es, was dem ernsthaft Suchenden den Blick verstellte.
Das grundlegende Motiv des Newman’schen Lebens war seine Hingabe an die Sache der Offenbarungsreligion. Schon als Schüler wurde er dazu bewegt, sie von ganzem Herzen zu bejahen und sich um die Erkenntnis ihres vollen und ausgewogenen Gehalts zu mühen. Diese Hingabe verlieh seinem Leben die innere Einheit. Sie ließ ihn zum Führer einer Bewegung werden, die der Kirche von England neue Lebenskraft geben und ihren übernatürlichen Charakter zur Geltung bringen sollte. Sie ließ ihn aber auch diese Kirche zugunsten der römischen Kirche verlassen. Sie ließ ihn den Versuch machen, die zahlreichen Mängel, auf die er dort traf, abzustellen und Auswüchse zu mildern. In vielen seiner Bemühungen war ihm zu seiner Zeit der Erfolg versagt, aber die Geschichte hat ihm recht gegeben, und die katholische Reformbewegung hat ihn als ihren Propheten auf den Schild gehoben. Stets war er ein Künder vergessener Wahrheiten. Wir wollen der Frage nachgehen, wie er diese wiederentdeckte und was ihn dazu befähigte, die christliche Offenbarungsreligion in ihrer katholischen Fülle zu entfalten.
Die ersten dreißig Jahre (1801–1832)
John Henry Newman wurde am 21. Februar 1801 in der City of London – dem historischen Stadtkern – im Haus Old Broad Street 80 geboren und starb am 11. August 1890 im Oratorium in Birmingham. Sein Vater, ein Londoner Bankier, war in religiösen Fragen liberal und dem Evangelikalismus wie auch jeder anderen Art von religiösem Enthusiasmus abhold. Seine Mutter, Jemima Fourdrinier, entstammte einer Hugenottenfamilie, die nach der Aufhebung des Edikts von Nantes aus Frankreich vertrieben worden war. Sie führte ihren Sohn in jene »Bibelreligion« ein, die er später in An Essay in Aid of a Grammar of Assent (»Entwurf einer Zustimmungslehre«) »sowohl den anerkannten Titel als auch die beste Beschreibung der englischen Religion« nennen sollte. »Sie besteht nicht in Riten oder Bekenntnissen, sondern hauptsächlich darin, dass die Bibel in der Kirche, in der Familie und privat gelesen wird.« Das prägte die religiöse Gedankenwelt der englischen Menschen, bestimmte ihren hohen moralischen Anspruch sich selbst gegenüber und vermittelte ihnen eine Erkenntnis von der Vorsorge Gottes für die Menschen. »Sie ist nicht eine Religion von Personen und Dingen, von Glaubensakten und unmittelbarer Andacht, sondern von heiligen Szenen und frommen Gefühlen.« 1Und obwohl ihm der anglikanische Katechismus gelehrt worden war, konnte Newman sagen, dass er als Kind »keine eigentlichen religiösen Überzeugungen« 2hatte. Aber er kannte die Bibel in allen Einzelheiten und gründlich, da ihm seine Mutter und seine Großmutter daraus vorgelesen hatten, noch bevor er selbst lesen konnte. Seine Eltern waren praktizierende Glieder der Kirche von England und blieben vom Evangelikalismus unberührt. Briefe aus der Zeit nach ihrer Hochzeit im Jahr 1799 sprechen von Abendgesellschaften, an denen sie teilnahmen, und Theaterbesuchen. Auch ihre sechs aufgeweckten Kinder, drei Jungen und drei Mädchen, von denen John Henry der Älteste war, gingen gern ins Theater und spielten Theater. Sie wuchsen in solidem Wohlstand auf und ihre literarischen, musikalischen und künstlerischen Begabungen erfuhren jede Art von Förderung.
Im Jahr 1808 ging John zusammen mit seinem Bruder Charles als Internatsschüler an die im 17. Jahrhundert gegründete große Privatschule in Ealing. Diese Einrichtung für 200 bis 300 Jungen war damals im Besitz und unter der Leitung von Dr George Nicholas. Im Allgemeinen richtete sich der Unterricht nach dem Eton’schen Modell, doch hatte die Schule ein höheres kulturelles Niveau als die damaligen public schools , wenn auch, bedingt durch den Abschluss bereits mit sechzehn Jahren, die Ausbildung in den alten Sprachen nicht so gründlich war. In pädagogischer Hinsicht folgte man jedenfalls fortgeschritteneren Auffassungen, und die spätere Kritik Newmans an den Anforderungen und Lehrmethoden in Oxford wurzelte in der hier genossenen Erziehung. Später pflegte Nicholas, sein Schuldirektor, zu sagen, dass niemand seine Lehranstalt so rasch durchlaufen hätte wie John Newman. George Huxley, der Vater des Naturforschers, war einer seiner Lehrer, und als Newman die Schule verließ, schrieb er ihm, er sei stolz darauf, dass er »dazu beitragen konnte, Ihnen zu dem Rüstzeug zu verhelfen, das Ihren künftigen Möglichkeiten angemessen ist. Auch darf ich Ihr stets untadeliges Betragen und Ihr unermüdliches Interesse während der ganzen Zeit Ihres Hierseins nicht unerwähnt lassen und werde beides immer in Erinnerung behalten. Wenn ich eine glänzende Zukunft für Sie voraussehe, so bin ich mir dessen gewiss, dafür gute Gründe zu haben.« Unter den Mitschülern Newmans waren der Bildhauer Richard Westmacott, George Selwyn, später Bischof von New Zealand, und Frederick Thesiger, der spätere Lord Chelmsford, der im Achilli-Prozess gegen Newman die Anklage vertreten sollte. Kurz nach Newmans Abgang wurde Charles Francis Adams, Sohn und Enkel von Präsidenten der Vereinigten Staaten, auf Wunsch seines Vaters, der damals amerikanischer Gesandter in London war, als Schüler aufgenommen. Vom Evangelikalismus blieb die Schule unberührt: Man erteilte Tanzunterricht, ermunterte zum Musizieren (Newman lernte dort das Geigenspiel) und führte alljährlich ein Stück von Terenz oder Plautus in Latein auf. Als einige Jahre später – Newman hatte die Schule schon verlassen – sein jüngster Bruder Francis während seiner Schulzeit evangelikale Ansichten und Verhaltensweisen übernahm, hatte er von seinen Mitschülern einiges zu erdulden.
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