Newman war jedoch nicht nur ein glänzender Schüler, sondern entwickelte sich auch zu einem Führer unter seinen Altersgenossen. Er gab eine Schülerzeitschrift heraus und war Vorsitzender eines Klubs. Aber der Erfolg birgt auch Versuchungen. »Mit vierzehn Jahren las ich Paines Abhandlungen gegen das Alte Testament und mit Vergnügen dachte ich über die Einwände nach, die sie enthielten. Auch einige von Humes Essays las ich, vielleicht auch den über die Wunder. So gab ich es wenigstens meinem Vater zu verstehen, es kann jedoch sein, dass ich damit nur großtun wollte. Ebenso erinnere ich mich, dass ich französische Verse, vermutlich von Voltaire, gegen die Unsterblichkeit der Seele abschrieb und mir dabei sagte: ›Wie furchtbar und doch wie einleuchtend!‹« 3So bekannte er später öffentlich in der Apologia Pro Vita Sua .
Schon 1823 schrieb er in sein privates Tagebuch:
»Ich erinnere mich (1815 war es, glaube ich) des Gedankens, ich möchte wohl tugendhaft sein, aber nicht religiös. Es lag etwas in der Vorstellung des Letzteren, das ich nicht mochte. Auch hatte ich nicht erkannt, was es für einen Sinn hätte, Gott zu lieben.« 4Noch war der Glaube Newmans nicht eine »Religion von Personen«. Und doch stand jener Wendepunkt seines Lebens, von dem er an so vielen Stellen seiner Schriften, den veröffentlichten wie auch den unveröffentlichten, spricht, unmittelbar bevor – seine erste Bekehrung.
In der Apologia beschrieb er sie so:
»Als ich fünfzehn war (im Herbst 1816) erlebte ich einen tief greifenden Denkwandel. Ich kam unter den Einfluss eines bestimmten Glaubensbekenntnisses und mein Denken wurde von dogmatischen Grundsätzen geprägt, die durch Gottes Barmherzigkeit niemals wieder ausgelöscht oder verdunkelt wurden.« 5
Ein Unglück, das über die Familie hereinbrach, bereitete den Weg für diesen »großen Denkwandel«. Im Gefolge der Finanzkrise nach den Napoleonischen Kriegen war die Bank, zu deren Eigentümern Newmans Vater gehörte, am 8. März 1816 gezwungen, ihre Zahlungen einzustellen. Zwar wurden die Gläubiger innerhalb eines Monats vollständig befriedigt, aber die Bank musste ihre Pforten schließen und der Newman’sche Wohlstand war dahin. Das Haus in London wurde vermietet, das Landhaus in Norwood verkauft und für den Vater begann eine unsichere Existenz als Direktor einer Brauerei in Alton in der Grafschaft Hampshire. Im gleichen Sommer wurde sein Sohn von einer schweren Krankheit niedergeworfen. Von dieser Krankheit schrieb er lange Zeit danach in seinem Tagebuch: »Sie machte mich eigentlich zum Christen – mit Erfahrungen vorher und nachher, Ehrfurcht gebietend und nur Gott allein bekannt.« 6Dr Nicholas erwies sich als Freund in der Not und Newman durfte zur Genesung während der Sommerferien an der Schule bleiben. Zugleich war er so aus dem Weg, während sich seine Familie in die neuen Verhältnisse hineinfinden musste. Außer ihm blieb während der Ferien ein junger Latein- und Griechischlehrer an der Schule – der sechsundzwanzigjährige Geistliche Walter Mayers, der erst kürzlich seine Bekehrung erlebt und sich dem Evangelikalismus zugewandt hatte. In der Apologia nannte ihn Newman »das menschliche Werkzeug für den Beginn des göttlichen Glaubens in mir«. Nun, da seine Freunde fort waren, hatte er Zeit zum Nachdenken, und Mayers’ Worte fielen auf fruchtbaren Boden.
Newman notierte die genauen Daten des großen Denkwandels, »den ersten bzw. letzten Tag des Halbjahres meiner Bekehrung, den 1. August und 21. Dezember 1816«. 7So groß Mayers’ Anteil an Newmans Bekehrung auch war, so wurde diese nach seinen eigenen Worten noch stärker durch die Bücher beeinflusst, die Mayers ihm gab, vor allem »von einem Schriftsteller, der auf mich einen tieferen Eindruck machte als jeder andere und dem ich (nach menschlichem Ermessen) fast meine Seele verdanke, … es ist Thomas Scott«. 8Vom Deismus hatte Scott sich nach langem Suchen und innerem Kampf dem Christentum in seiner gemäßigt calvinistischen Form zugewandt. Diese theologische Entwicklung und seine Überzeugungen hatte er in dem 1779 erschienenen Werk The Force of Truth dargestellt. Seit 1801 war er Pfarrer von Aston Sandford in Buckinghamshire, wo er 1821 nach einem Leben voller Hingabe starb. In der Apologia pries Newman Scotts »stark weltabgewandten Sinn und die kraftvolle Unabhängigkeit seines Geistes. Er folgte der Wahrheit, wohin sie ihn führte. Er begann als Unitarier und endete im eifrigen Glauben an die Heilige Dreifaltigkeit. Er war es, diese Grundwahrheit der Religion meinem Geiste zuerst tief einprägte.« 9Die Lehre von der Trinität, der Inkarnation und der Erlösung wurde Newman jetzt zur Realität, wie die Gebete zeigen, die er zu dieser Zeit für den persönlichen Gebrauch niederschrieb. Er versuchte, in seinem Leben der von Scott immer wieder herausgestellten Lehre gerecht zu werden, dass der Heilige Geist in der Seele anwesend ist und in ihr Wohnung genommen hat. Er nahm uneingeschränkt den Glauben an die ewige Seligkeit an, aber auch den an die »ewige Verdammnis, wie vom Herrn selbst mitgeteilt«. Aus den calvinistischen Büchern, die er las, lernte Newman die »katholische Lehre vom Krieg zwischen der Stadt Gottes und den Mächten der Finsternis« kennen. Aus der gleichen Quelle übernahm er auch die Lehre, dass er nach seiner Bekehrung zur ewigen Herrlichkeit bestimmt sei. Doch ließ ihn dies nicht sorglos werden, und als er einundzwanzig Jahre alt war, spielte diese Vorstellung in seinem Denken keine Rolle mehr. Was er jedoch die »verabscheuungswürdige Lehre« von der Vorherbestimmung zum ewigen Tod nannte, so hatte sich Newman diese niemals zu eigen gemacht, und sie war auch von Scott eindeutig verworfen worden. 10
Newman wurde nun ein Anhänger des Evangelikalismus, aber er scheint keine für diese Bewegung typische Bekehrung erlebt zu haben. Sie war kein plötzliches Ereignis, sondern erstreckte sich über einen längeren Zeitraum und war auch nicht von jenen besonderen emotionalen Erlebnissen begleitet, die nach evangelikaler Auffassung so wichtig waren. Er wurde nicht von heftigen Gefühlen bewegt und musste zugeben, dass sich seine Bekehrung stark von den Schilderungen, die er gelesen hatte, unterschied. Evangelikale mussten bezweifeln, ob er überhaupt eine Bekehrung erlebt hatte. Newman nannte sein Erlebnis einen »Denkwandel«, um den intellektuellen Charakter zu unterstreichen, und er ahnte schon die rationale Rechtfertigung seiner neuen Gewissheiten. Er war beeindruckt von ihrem introspektiven Charakter – »Ich weiß, dass ich weiß« – und von ihrer inneren Folgerichtigkeit, jenem Kennzeichen der Wahrheit. Hier ist bereits An Essay in Aid of a Grammar of Assent (»Entwurf einer Zustimmungslehre«) im Keim erkennbar. 11Auch stellte er detaillierte Verzeichnisse von Schriftstellen zusammen, die die Trinität wie auch alle anderen Teile des Athanasischen Credos belegen. Die Offenbarungsreligion, die er nun angenommen hatte, wollte er in ihrer ganzen Fülle studieren. Gleichzeitig mit der intellektuellen Zustimmung wandte er sich uneingeschränkt dem Heiligkeitsideal des Evangeliums zu. Er begann, ein strengeres Leben zu führen und sich in Gottes Gegenwart zu versenken, »um im Gedanken der zwei Wesen zu ruhen, die einzig absolut und zweifelsfrei existent sind – ich und mein Schöpfer«. Die sichtbare Welt, so schön und bedeutsam sie auch sein mag, schien weniger wichtig als das Unsichtbare. Dies war nicht irgendeine Art von beginnendem Idealismus, sondern eine tief christliche Weise des Denkens. Sein objektiver Trinitätsglaube bewahrte ihn vor der subjektiven Kontemplation seines eigenen Ichs, zumal er von Natur aus ein Mann der Tat war. Zwei Aussprüche Scotts machte er sich zu eigen: »Heiligkeit statt Frieden« und: »Wachstum ist das einzige Zeichen von Leben«. Als die Zeit seiner Bekehrung zu Ende ging, fuhr er mit seinem Vater nach Oxford und trat ins Trinity College ein, wohnte jedoch dort erst ab Oktober des folgenden Jahres. Die dazwischenliegenden Monate, die unmittelbar auf seine Bekehrung folgten, verbrachte er in harter geistiger Arbeit. Er hatte nun seinen eigenen Weg durchs Leben zu finden, und seine Talente sollten im Dienste Gottes genutzt werden.
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