In dieser Zeit ging eine weitere Veränderung in ihm vor, die im Allgemeinen nicht mit einer evangelikalen Bekehrung verbunden war: Im Herbst 1816 reifte in ihm der Gedanke, es sei Gottes Wille, dass er unverheiratet bliebe. Dies entsprang mehr oder weniger der Vorstellung, sein Lebenswerk verlange dieses Opfer. Um eine Parallele für Newmans erste Bekehrung zu haben, möge man sich einen begabten, aber in den Tag hinein lebenden Jungen vorstellen, für den eine Zeit der Zurückgezogenheit von seinen Altersgenossen oder die Lektüre eines klassischen Werkes der religiösen Literatur zum Beginn des geistlichen Lebens wird, allerdings mit dem Unterschied, dass bei Newman alles entschiedener hervortritt. Er »wurde zum Christen gemacht« und begann sein neues Leben. Er nahm die Offenbarung in der reinsten Form an, die ihm zugänglich war, und es war für ihn nur konsequent, sich Gott ganz hinzugeben. Dies war der Wendepunkt, der seinem Leben das einheitliche Gepräge geben sollte. Sein sich entfaltender Geist wurde von der christlichen Offenbarung ergriffen und sein Herz vom christlichen Ideal der Heiligkeit.
Im Oktober 1817 kam Newman im Alter von sechzehneinhalb Jahren nach Oxford, das er ein Vierteljahrhundert später »die religiöseste Universität der Welt« nennen sollte. 12Jeder Student hatte die Neununddreißig Artikel 13zu unterschreiben, sodass nur Anglikaner zugelassen werden konnten. Die meisten Angehörigen des Lehrkörpers – die Fellows of the Colleges – mussten sich ordinieren lassen, wenn sie ihre Zugehörigkeit zu einem College und damit ihre Stelle behalten wollten. Bei Heirat hatten sie aus dem College auszutreten. Obwohl es weder in Oxford noch in Cambridge eine Theologische Fakultät gab, kamen aus diesen beiden Universitäten die weitaus meisten Geistlichen der Kirche von England. Der Anteil der Absolventen, die in ihren Dienst traten, war sehr viel größer als derjenigen, die andere Berufe ergriffen. Das bedeutete nicht, dass Oxford in irgendeiner Weise einem Priesterseminar geähnelt hätte. Noch waren Moralauffassungen und Lebensgewohnheiten des 18. Jahrhunderts nicht tot, und Newmans neu gewonnene evangelikale Einstellung wurde am Trinity College hart auf die Probe gestellt. Sein Leben war bestimmt von Gebet, innerer Sammlung und intensivem Studium, doch spielte das Trinity College in seiner religiösen Entwicklung nur eine geringe Rolle. Im November 1817 ging er zum ersten Mal zur Kommunion. Es war in der College-Kirche , deren Bild bis an sein Lebensende sein Zimmer schmückte. Das College war ihm »ein sehr lieber, aber auch ein recht müßiger Ort«. 14Wie stets in seinem Leben schloss er viele Freundschaften. Am nächsten stand ihm in dieser Zeit der aus einer wohlhabenden Familie der Isle of Wight stammende William Bowden, der später Regierungskommissar für Abgaben und Steuern wurde und als anglikanischer Laie eine Lebensbeschreibung Gregors VII. verfasste. Im Trinity College gaben sie zusammen anonym eine Zeitschrift The Undergraduate heraus und schrieben ein romantisches Gedicht – »Die Bartholomäusnacht« – über einen protestantischen Edelmann und eine katholische Dame, die beide durch die Machenschaften eines fanatischen Priesters den Tod finden.
Im Jahr 1818 gewann Newman ein College-Stipendium von 60 ₤ im Jahr, das ihm für neun Jahre zustand. Wegen des traurigen Zustandes, in dem sich die familiären Finanzen befanden, war dies für ihn von großer Bedeutung. Sein Abschlussexamen fand im Jahr 1820 statt und alle erwarteten, dass er den akademischen Grad in zwei Fächern mit Auszeichnung erwerben würde, aber vor Überarbeitung und Aufregung wurde er schwer krank und musste seine Absicht aufgeben. Es gelang ihm nur, den üblichen Grad eines Bachelor of Arts (B. A.) zu erringen. Das war mehr als nur eine persönliche Enttäuschung für ihn; es war ein harter Schlag, denn nun schien es sehr unwahrscheinlich, dass er in absehbarer Zeit in der Lage sein würde, seine Familie zu unterstützen. Um die Situation doch noch zu retten, entschloss er sich trotz erheblicher Bedenken, sich um eine Fellowship am Oriel College zu bewerben, das damals eine herausragende Stellung einnahm und im Zenit seines literarischen und intellektuellen Ruhmes stand. Am 12. April 1822 wurde er zum Fellow (Gelehrter, der an einer Hochschule oder Universität zum Zweck der Lehre oder Forschung finanziell unterstützt wird, Anm. d. V.) des Oriel College gewählt und trat damit in eine Gemeinschaft ein, die für seine Entwicklung von entscheidender Bedeutung sein sollte. Newman nannte diesen Tag »von allen den denkwürdigsten. Er hob mich aus Unbekanntheit und Not zu Verantwortung und Ansehen.« 15Obwohl er jetzt über ein gesichertes Einkommen verfügte, arbeitete er sich durch Privatstunden fast zu Tode, um seiner Familie Geld schicken zu können. Ende 1821 hatte sein Vater Konkurs anmelden müssen und das Haus in der Southampton Street wurde verkauft. Drei Jahre später starb er. Kurz vorher, im Jahr 1822, war sein jüngster Sohn Francis ins Worcester College eingetreten. John zahlte alle Ausgaben und trug überdies in erheblichem Maß zum Lebensunterhalt seiner Mutter und seiner drei Schwestern bei.
In der freimütigen und aufgeschlossenen Atmosphäre, die am Oriel College herrschte, kam Newman »aus seiner Schale« heraus. Er wurde Richard Whately, dem späteren Erzbischof von Dublin, zugeteilt, der erst unlängst wegen seiner Heirat auf seine Fellowship am Oriel College verzichtet hatte. Newman schrieb über ihn, er sei »frei und gewandt in seinem Benehmen« gewesen, »freilich auch derb und entschieden in der Formulierung seiner Ansichten, aber überaus liebenswürdig gegen die Studenten und jungen Akademiker, die, wenn sie etwas wert waren, sich nur glücklich schätzten, sich von solch einem Mann durch Argumente kreuz und quer treiben zu lassen«. 16Whately seinerseits bezeichnete Newman als den klarsten Denker, den er kannte, und nahm dessen Hilfe beim Verfassen seiner Elements of Logic in Anspruch. Whately war zwar Latitudinarier, aber zugleich ein Antierastianer. 17Durch ihn lernte Newman »die Idee der christlichen Kirche als einer göttlichen Einrichtung und als einer selbstständigen sichtbaren Körperschaft, unabhängig vom Staat und ausgerüstet mit eigenen Rechten, Vorrechten und Machtvollkommenheiten«, 18kennen.
Bereits im Januar 1822, noch bevor er in den Lehrkörper des Oriel College gewählt worden war, hatte sich Newman entschlossen, sich ordinieren zu lassen. Am 13. Juni 1824 wurde er Diakon und er schrieb in sein Tagebuch:
»Es ist geschehen. Ich bin dein, o Herr … Zuerst, nach der Handauflegung, erschauerte mein Herz in mir; die Worte ›für immer‹ sind so furchtbar. Es war wohl kein frommes Gefühl, das mich melancholisch stimmte bei dem Gedanken, dass ich alles um Gottes willen aufgeben sollte. Freilich brannte mein Herz dann und wann in mir, besonders als man das Veni Creator Spiritus sang. Ja, Herr, ich bitte nicht so sehr um Trost wie um Heiligung.« 19Am folgenden Tag fügte er einen Satz hinzu, der für sein kommendes Wirken den Schlüssel liefert: »Ich trage Verantwortung für die Seelen bis zum Tag meines Todes.« 20Was immer er unternahm, sollte einen pastoralen Sinn haben.
Längere Zeit dachte er daran, Missionar zu werden, und kurz nach seiner Ordination zog er wiederholt entsprechende Erkundigungen bei der Church Missionary Society ein. Für die Zwischenzeit übernahm er zunächst die in Oxford jenseits der Magdalen Bridge gelegene ärmliche Pfarrei St Clement’s , für die er sich ordinieren ließ. Dort begann er im Juli 1824 mit seiner Arbeit.
In dieser Zeit wurde der Einfluss evangelikaler Auffassungen auf Newman immer schwächer und schwand schließlich ganz. Ein anderer Fellow des Oriel College , Edward Hawkins, war zur gleichen Zeit Pfarrer der Universitätskirche St Mary the Virgin . Ihm zeigte Newman seinen ersten Predigtentwurf, den Hawkins jedoch einer scharfen Kritik unterzog, weil Newman die Menschen in zwei streng geschiedene Gruppen unterteilt hatte – danach, ob sie »bekehrt« waren oder nicht. Den zweiten Schritt tat Newman selbst. Er beschränkte sich nicht darauf, am Sonntag zweimal in seiner Kirche zu predigen, sondern begann damit, seine armen Pfarrangehörigen Haus für Haus aufzusuchen. Er hatte gelernt, Realist zu sein und sich stets nach Tatsachen zu richten, und so fand er bald heraus, dass die evangelikale Lehre in der Wirklichkeit versagte. Statt der evangelikalen Auffassung, dass die Kirche nur aus jenen bestehe, die eine Bekehrung erfahren haben, brachte ihn Hawkins dazu, die Lehre von der Wiedergeburt in der Taufe anzunehmen. Von ihm lernte er, dass die Taufe kein leeres Symbol ist, sondern dass alle, die sie empfangen, Glied der Kirche werden, auch wenn sie zu jung sind, um noch eine bleibende Erinnerung an das Geschehen in sich zu tragen. Damit verwarf er ein subjektives Kriterium zugunsten dieses objektiven Merkmals. Durch Hawkins lernte Newman auch, dass die Bibel der Interpretation und Erklärung durch die Tradition bedarf. »Der heilige Text war nie dazu bestimmt gewesen, die Menschen in einer Glaubenslehre zu unterweisen, er sollte sie nur bestätigen. Um die Glaubenslehre kennenzulernen, müssten wir uns an die Formulare der Kirche halten, z. B. an den Katechismus und das Glaubensbekenntnis.« 21
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