Und dabei half er mir kopfschüttelnd beim Ausschirren, es war die beste und argloseste Seele von der Welt! Das wunderte mich aber gar nicht, denn er war nicht nur Farmer, sondern auch Prediger. Er hatte seine kleine hölzerne Kirche, die zugleich Schulhaus war und an der Grenze der Plantage lag, selber und auf eigene Kosten errichtet; und auch für seine Predigten rechnete er nie nichts an. Da drunten im Süden giebt's viele Prediger-Farmer oder Farmer-Prediger der Art.
Nach ungefähr einer Stunde kam Toms Wagen in Sicht und Tante Sally entdeckte ihn zuerst vom Fenster aus, als er etwa noch fünfzig Meter weit entfernt war.
»Ach, da kommt ja jemand! Wer das wohl sein mag? Ach Herrje, das ist ein Fremder! Jimmy,« (das war eins von den Kindern) »lauf mal schnell und sag' der Liese, daß sie noch einen Teller mehr auf den Tisch stellt!«
Alles stürzte nun der Thüre zu, denn ein Fremder zeigt sich hier nicht alle Jahre, und wenn 'mal einer kommt, interessiert man sich für ihn sogar noch mehr, als für das gelbe Fieber! Tom war inzwischen vom Wagen gesprungen und befand sich schon halbwegs der Thüre zu, während der Wagen wieder der Stadt entgegenrasselte. Wir drückten uns in der Thüröffnung zusammen wie eine Herde Schafe und eins suchte immer das andre zu verdrängen. Tom hatte seine besten Kleider an und ein Auditorium vor sich und da fühlte er sich allemal ganz mächtig. Auch jetzt betrug er sich mit der ganzen großen Würde, über die er verfügte. Er schlich sich nicht linkisch und verschämt heran, nein, stolz und aufrecht schritt er einher, wie ein Calcutta-Hahn. Bei uns angelangt, lüftet er anmutig und zierlich seinen Hut, als wäre es der Deckel einer Schachtel, in der ein seltener Schmetterling säße, und fragt:
»Herrn Archibald Nichols habe ich wohl die Ehre vor mir zu sehen?«
»Nein, mein Junge,« erwidert der alte Herr, »der bin ich nicht, das thut mir leid. Der Kutscher muß sich wohl geirrt haben, Nichols Farm ist noch etwa drei Meilen weiter. Aber nur herein, nur herein!«
Tom blickte über die Schulter zurück nach dem Wagen, der eben um die nächste Ecke verschwand, und sagt:
»Das ist nun zu spät – den hol' ich nicht mehr ein!«
»Ja, der ist fort, mein Sohn, und du mußt nun eben bei uns vorlieb nehmen. Nach dem Essen spann' ich dann an und fahr' dich zu Nichols hinüber.«
»Ach, das kann ich aber doch kaum annehmen, mein Herr, ich kann Ihnen unmöglich die Mühe machen. Könnte ich denn nicht gehen? Ich bin gut zu Fuß und drei Meilen sind keine so entsetzliche Entfernung!«
»Wir aber lassen dich nicht gehen! Das wäre mir eine schöne Gastfreundschaft. Wir im Süden halten da was drauf! Nur immer zu, immer herein!«
»O, bitte,« sagte nun auch Tante Sally, »es ist uns gar keine Mühe, nur Freude. Du mußt bleiben! Wir können dich den langen, staubigen Weg nicht machen lassen. Als ich den Wagen kommen sah, habe ich gleich in der Küche gesagt, daß man einen Teller mehr hinstellt, es ist also alles in Ordnung. Bitte also hereinzukommen und sich's bequem zu machen!«
»Tom ließ sich erbitten, dankte den guten Leuten sehr höflich und schön und trat ein. Als er im Zimmer war, sagte er mit einer Verbeugung, er komme von Hicksville in Ohio, sein Name sei William Thompson und er dienerte nochmals.«
Man setzte sich zusammen und er erzählte und erzählte über Hicksville, über die Leute dort, über sich, seine Reise; der Mund stand ihm keinen Augenblick still und der Stoff schien ihm nur so zuzuströmen. Denk' ich bei mir, das ist all' recht gut und schön, wie es mir aber aus der Patsche helfen soll, begreif' ich doch nicht recht. Da plötzlich, mitten im Reden, beugt er sich vor und küßt Tante Sally, neben der er saß, herzhaft, so recht saftig auf den Mund, lehnt sich dann behaglich in seinen Stuhl zurück, als ob nichts geschehen und schwatzt immerzu. Entrüstet springt die gute Frau auf, wischt sich mit dem Rücken der Hand ein paarmal kräftig über den Mund und fährt Tom an:
»Er unverschämter, junger Flegel!«
Der sieht beleidigt aus und sagt nur:
»Ich bin wahrhaftig ganz erstaunt liebe Frau!«
»Du – erstaunt? Da hört denn doch alles auf! Ei, was soll man dazu sagen? Ich hätte gute Lust, einen Stock zu nehmen und – doch, wie kommst du dazu, mich zu küssen? Heraus damit – ich will's wissen! Was hast du dir dabei gedacht?«
Ganz demütig erwidert er:
»Gedacht? gar nichts! Ich dachte nichts Schlimmes, ich – ich dachte, es wäre Ihnen angenehm!«
»Na, – jetzt aber! Verrückter Bursche, wart'!« Sie griff nach einem Spazierstock ihres Mannes und es sah beinahe so aus, als wolle der Stock durchaus auf Toms Rücken tanzen und sie könne ihn nur mit Mühe zurückhalten. »Was hat dich denn auf den tollen Gedanken gebracht, es könne mir angenehm sein?«
»Ich – ich weiß nicht. Man – man hatte mir so gesagt!«
»Man hatte dir so gesagt? Wer dir das gesagt hat, ist ein zweiter Narr, ein Tollhäusler, ein – ein – wer ist denn dieser ›man?‹«
»Ach, jedermann! Alle haben das gesagt!«
Sie konnte kaum mehr an sich halten, ihre Augen sprühten Funken und ihre Finger krümmten sich, als wolle sie ihm die Augen auskratzen. Ganz heiser stößt sie heraus:
»Wer sind ›alle‹? Heraus mit dem Namen, oder ich werde noch verrückt!«
Tom sprang auf und schien sehr bekümmert. Weinerlich stottert er:
»Das thut mir leid, aber das hätt' ich nicht erwartet! Sie haben mir's aufgetragen, alle! Alle sagten: gieb ihr einen herzhaften Kuß, das wird sie freuen, wird ihr angenehm sein. Alle sagten das – jeder einzelne! Aber jetzt thut mir's leid, gute Frau, daß ich's gethan, gewiß und wahrhaftig und ich will's nie – nie wieder thun!«
»Nie wieder thun? – Nun, das will ich wohl meinen!«
»Nein, gewiß und wahrhaftig, nie wieder – bis ich drum gebeten werde! bis Ihr mich drum bittet!«
»Bis ich dich drum bitte? – Hat man je so etwas gehört? Junger Mensch, ich sag' dir, du kannst so alt werden wie ein Methusalem, ehe ich dich oder deinesgleichen um so etwas bitte!«
Tom schüttelt zweifelnd den Kopf und sagt vor sich hin:
»Mich wundert's, wundert's grenzenlos, ich kann gar nicht klug draus werden! Sie haben mir's doch alle gesagt und ich hab's auch selbst gedacht! Aber –« er hielt ein und sah sich langsam rings auf allen Gesichtern um, als wolle er irgendwo eine Zustimmung entdecken. Am Auge des alten Mannes blieb er hängen und fragte nun diesen: »Haben auch Sie nicht gedacht, es wäre ihr lieb, wenn ich sie küßte?«
»Ich – ich? Nein – der Gedanke ist mir wirklich nicht gekommen!«
Tom forscht nun weiter in den Gesichtern und bei mir angelangt, fragt er:
»Und du, Tom, hast du nicht auch geglaubt, Tante Sally werde die Arme öffnen und rufen: ›Sid Sawyer‹ –«
»Herr des Himmels!« schreit diese, und fährt auf ihn zu, »du Taugenichts, du Schlingel du! – So seine arme, alte Tante anzuführen, wart'!«
Sie will ihn an sich ziehen, er aber wehrt sie ab:
»Nicht, bis du mich drum bittest, Tante Sally,« neckte er.
Und sie verliert keine Zeit und bittet und umarmt und küßt ihn wieder und wieder und dann liefert sie ihn dem alten Manne aus und der nimmt auch sein Teil. Dann, als die guten Leutchen wieder ruhiger geworden, sagt sie:
»Ei, du lieber Himmel, nein, diese Überraschung! Wir haben nur Tom erwartet! Tante Polly schrieb nie von dir, Sid, nur immer von Tom. Wie kam denn nur alles so?«
»Ja, es war auch immer nur von Tom die Rede. Da habe ich aber gebettelt und gefleht, ich wolle mit, bis zur letzten Minute und da endlich bekam ich's erlaubt. Auf dem Boot nun haben wir ausgemacht – Tom und ich, es würde ein Kapitalspaß sein, wenn er erst allein käme und ich hintennach als Fremder ins Haus fiele und Euch überraschte. Darin haben wir uns aber verrechnet, Tantchen; denn für Fremde ist der Ort nicht geschaffen.«
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