Bei den geringsten Anlässen steckten ihn die Eltern ins Bett und pflegten ihn vorsorglich. Er war immer ein ängstliches Kind gewesen und schrie oft im Schlafe auf, um seine Mutter auch des Nachts mit sich zu beschäftigen.
Es versteht sich, daß er über die Bedeutung und über den Zusammenhang aller dieser Erscheinungen nicht im klaren war. Sie alle waren der Ausdruck, die Aussprache seines Lebensstils. Er wußte auch nicht, daß er deshalb bis spät in den Morgen hinein im Bette las, um am nächsten Tage das Privilegium zu genießen, spät aufstehen zu können und so eines Teiles seiner Tagesarbeiten ledig zu werden. Mädchen gegenüber war seine Scheu noch größer als gegenüber Männern, und dieses Verhalten überdauerte die ganze Zeit seiner Entwicklung zum Manne. Daß es ihm in jeder Lebenssituation an Mut gebrach, daß er um keinen Preis seine Eitelkeit aufs Spiel setzen wollte, kann leicht verstanden werden. Die Unsicherheit, von Mädchen gut aufgenommen zu werden, kontrastierte stark mit der Sicherheit, mit der er die Hingabe der Mutter erwarten durfte. In seiner Ehe wollte er die gleiche Herrschaft errichten, deren er sich bei Mutter und Brüdern erfreute und mußte natürlich scheitern.
Ich konnte feststellen, daß in den ältesten Kindheitserinnerungen, freilich oft gut verborgen, der Lebensstil eines Individuums zu finden ist. Unseres Patienten älteste Erinnerung lautete: »Ein kleiner Bruder war gestorben, und der Vater saß vor dem Hause und weinte bitterlich.« Wir erinnern uns, wie der Patient vor einer Vorlesung nach Hause flüchtete und zu sterben vorgab.
Wie einer zur Frage der Freundschaft steht, charakterisiert sehr gut seine Fähigkeit zum Gemeinschaftsmenschen. Unser Patient gibt an, daß er immer nur kurze Zeit Freunde besessen habe und daß er sie immer beherrschen wollte. Man wird dies wohl nur Ausbeutung der Freundschaft anderer nennen können. Als er auf diesen Umstand freundlich hingewiesen wurde, antwortete er: »Ich glaube nicht, daß irgend einer sich für die Gemeinschaft einsetzt, jeder tut es nur für sich.« Wie er sich für den Rückzug rüstet, geht auch aus folgenden Tatsachen hervor: Er möchte gerne Artikel oder ein Buch schreiben. Aber wenn er sich zum Schreiben hinsetzt, kommt er in eine solche Erregung, daß er nicht denken kann. Er erklärt, nicht schlafen zu können, wenn er vorher nicht liest. Aber wenn er liest, bekommt er einen Druck im Kopfe, so daß er nicht schlafen kann. Sein Vater starb vor kurzer Zeit, gerade als der Patient eine andere Stadt besuchte. Kurz hernach sollte er dort eine Stelle annehmen. Er lehnte ab unter Vorgabe, er würde sterben, wenn er diese Stadt betreten müßte. Als man ihm in seiner Stadt eine Stelle anbot, schlug er sie aus mit der Motivierung, er würde die erste Nacht nicht schlafen können und am nächsten Tag deshalb versagen. Erst müsse er ganz gesund werden. Daß auch im Traum des Patienten sein Bewegungsgesetz, dieses »Ja, aber« des Neurotikers wieder zu finden ist, dafür ein Beispiel. Man kann mit der Technik der Individualpsychologie die Dynamik eines Traumes finden. Sie sagt uns nichts Neues, nichts, was wir nicht sonst auch aus dem Verhalten des Patienten erkennen konnten. Man kann aus den richtig verstandenen Mitteln und aus der Auswahl der Inhalte erkennen, wie der Träumer, geleitet durch sein Bewegungsgesetz, bemüht ist, entgegen dem Common sense seinen Lebensstil durch künstliche Erweckung von Gefühlen und Emotionen durchzusetzen. Und man findet auch oft Hinweise darauf, wie der Patient seine Symptome unter dem Druck der Furcht vor einer Niederlage erzeugt. Ein Traum dieses Patienten lautet: »Ich sollte Freunde besuchen, die jenseits einer Brücke wohnten. Das Geländer war mit Farbe frisch gestrichen. Ich wollte ins Wasser schauen und lehnte mich ans Geländer. Dieses stieß gegen meinen Magen, der zu schmerzen begann. Ich sagte zu mir selbst: du sollst nicht ins Wasser hinabschauen. Du könntest hinunterfallen. Aber ich wagte es doch, ging abermals bis zum Geländer, blickte hinab und ging rasch zurück, indem ich überlegte, es sei doch besser, in Sicherheit zu sein.«
Der Besuch der Freunde und das frisch gestrichene Geländer deuten auf die Hinweise betreffs des Gemeinschaftsgefühls und des Neuaufbaues eines besseren Lebensstils. Die Furcht des Patienten, von seiner Höhe herabzufallen, sein »Ja, aber«, sind klar genug hervorgehoben. Die Magenbeschwerden als Folge eines Furchtgefühls sind, wie früher beschrieben, konstitutionell immer zur Hand. Der Traum zeigt uns die ablehnende Haltung des Patienten gegenüber den bisherigen Bemühungen des Arztes und den Sieg des alten Lebensstils unter Zuhilfenahme eines eindringlichen Bildes einer Gefahr, wenn die Sicherheit des Rückzuges in Frage gestellt ist.
Die Neurose ist die dem Verständnis des Patienten entzogene, automatische Ausnutzung von Symptomen, die aus Schockwirkungen entstanden sind. Diese Ausnutzung liegt solchen Menschen näher, die für ihren Nimbus allzusehr fürchten und die schon in der Kindheit, meist als verwöhnte Kinder, auf diesen Weg der Ausnutzung gelockt wurden. Noch einiges über die körperlichen Erscheinungen, wo die Phantasien einiger Autoren Triumphe feiern. Die Sache steht so: der Organismus ist ein Ganzes und hat als Gabe und Geschenk der Evolution das Streben zum Gleichgewicht, das sich unter schwierigen Umständen so weit als möglich durchsetzt. Zur Erhaltung des Gleichgewichts gehört die Abänderbarkeit des Herzschlages, die Tiefe des Atmens, die Zahl der Atemzüge, die Gerinnbarkeit des Blutes, die Beteiligung der endokrinen Drüsen; da zeigt sich immer deutlicher, daß insbesondere seelische Erregungen das vegetative System und das endokrine System in Erregung versetzen und zu vermehrter oder veränderter Sekretion veranlassen. Wir können heute noch am ehesten Veränderungen der Schilddrüse infolge der Schockwirkungen verstehen, die manchmal sogar lebensgefährlich werden können. Ich habe solche Patienten gesehen. Der größte Forscher auf diesem Gebiet, Zondek, hat sich meiner Mithilfe versichert, um festzustellen, welche seelische Einwirkungen mit im Spiele sind. Es ist ferner keine Frage, daß alle Fälle von Basedowerkrankungen als eine Folge von seelischen Erschütterungen auftreten. Es sind gewisse Menschen, bei denen seelische Erschütterungen die Schilddrüse irritieren.
Auch Fortschritte der Forschung über die Irritation der Nebenniere sind gemacht worden. Man kann von einem Sympathico-Adrenalin-Komplex sprechen; besonders bei Zornaffekten ist die Beimengung von Nebennierensekret vermehrt. Der amerikanische Forscher Cannon hat an Tierversuchen gezeigt, daß bei Zornausbrüchen eine Vermehrung des Adrenalingehaltes eintritt. Das führt zur Verstärkung der Herztätigkeit und anderen Veränderungen, so daß man verstehen kann, daß Kopfschmerzen, Gesichtsschmerzen, vielleicht epileptische Anfälle durch einen psychischen Anlaß hervorgerufen werden können. Dabei handelt es sich immer um Menschen, die durch ihr Problem immer wieder aufs neue gereizt werden. Es ist klar, daß es sich da um die Dauer von Problemen handelt. Wenn man es mit einem 20jährigen nervösen Mädchen zu tun hat, wird man wohl annehmen können, daß hier Berufsfragen, wenn nicht Liebesfragen drohend vor ihr stehen. Bei einem 50jährigen Mann oder einer Frau wird man unschwer erraten, daß es das Problem des Alters ist, das der Betreffende glaubt nicht lösen zu können oder tatsächlich nicht lösen kann. Wir empfinden die Tatsachen des Lebens niemals direkt, sondern nur durch unsere Auffassung, sie ist maßgebend.
Die Heilung kann nur auf intellektuellem Wege, durch die wachsende Einsicht des Patienten in seinen Irrtum und durch die Entwicklung seines Gemeinschaftsgefühls zustandekomen.
11. Sexuelle Perversionen
Inhaltsverzeichnis
Ich hoffe, daß die hier nur schematische Darstellung der sexuellen Perversionen keine Enttäuschung zur Folge haben wird. Ich darf dies um so eher erwarten, als der größte Teil meiner Leser mit den Grundanschauungen der Individualpsychologie vertraut ist, so daß das spurweise Anklingen eines Problems wie eine ausführliche Behandlung desselben entgegengenommen werden wird. Hier kommt es viel mehr darauf an, den Einklang unserer Weltanschauung mit der Struktur der sexuellen Perversion zu zeigen. In unserer Zeit ist das keine ungefährliche Angelegenheit, denn gerade heute ist die Strömung übermächtig, die die sexuellen Perversionen auf angeborene Faktoren zurückführen möchte. Das ist so bedeutsam, daß man diesen Gesichtspunkt nicht aus den Augen lassen darf; nach unserer Anschauung handelt es sich um Kunstprodukte, die in die Erziehung eingeflossen sind, ohne daß der Betroffene es weiß. Daraus sieht man den großen Gegensatz, in dem wir zu anderen stehen, und die Schwierigkeiten, die für uns nicht geringer werden, wenn andere, wie z. B. Kraepelin, eine ähnliche Auffassung betonen.
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