Besitzt ein Kind eine höhere Aktivität in schlechtem Sinne, dann kann man voraussetzen, daß dieses Kind, wenn es später ein Fehlschlag wird, kein Nervöser wird, sondern sich dann in einer anderen Form eines Fehlschlages � Verbrecher, Selbstmörder, Trunkenbold -manifestiert. Er kann sich als schwer erziehbares Kind des schlimmen Genres präsentieren, aber er wird nicht die Züge eines Nervösen aufweisen. Wir sind nun näher herangekommen und können feststellen, daß der Aktionsradius eines solchen Menschen keine besondere Ausbreitung erfährt. Der Nervöse hat einen geringen Aktionsradius, verglichen mit dem mehr normaler Menschen. Die Frage ist wichtig, woher die größere Aktivität kommt. Wenn wir feststellen, daß es möglich ist, den Aktionsradius eines Kindes zu entwickeln und zu unterdrücken, wenn wir verstanden haben, daß es Mittel gibt, in einer fehlgeschlagenen Erziehung den Aktionsradius des Kindes bis auf ein Minimum einzuengen, verstehen wir auch, daß uns die Frage der Vererbung nicht interessiert, sondern, daß das, was wir sehen, Produkt der schöpferischen Fähigkeiten des Kindes ist. Die Körperlichkeit und die Einwirkung der Außenwelt sind Bausteine, die das Kind zum Aufbau seiner Persönlichkeit benützt. Was wir an den Symptomen der Nervosität beobachten, die wir einteilen in körperliche Erschütterungen gewisser Organe und in seelische Erschütterungen, Angsterscheinungen, Zwangsgedanken, Depressionserscheinungen, die spezielle Bedeutung zu haben scheinen, nervöse Kopfschmerzen, Errötungszwang, Waschzwang und ähnliche seelische Ausdrucksformen, alle sind Dauersymptome. Sie verharren durch längere Zeit, und wenn man sich nicht in das Dunkel phantastischer Anschauungen begeben und annehmen will, daß sie sich ohne Sinn entwickelt haben, wenn man nach dem Zusammenhang sucht, wird man finden, daß jene Aufgabe, die dem Kind vorliegt, für das Kind zu schwer gewesen ist, daß sie aber dauernd besteht. Dadurch erscheint die Konstanz von nervösen Symptomen festgestellt und erklärt. Der Ausbruch der nervösen Symptome erfolgt vor einer bestimmten Aufgabe. Wir haben umfängliche Untersuchungen angestellt, um herauszufinden, worin die Schwierigkeit der Lösung von Problemen besteht, und die Individualpsychologie hat damit das ganze Gebiet dauernd beleuchtet, indem sie festgestellt hat, daß die Menschen immer Probleme vor sich haben, zu denen eine soziale Vorbereitung gehört. Die muß das Kind in frühester Kindheit erwerben, denn eine Steigerung ist nur aus dem Verständnis möglich. Wenn wir uns die Aufgabe gestellt haben, deutlich zu machen, daß tatsächlich immer ein solches Problem erschütternd wirkt, dann können wir von Schockwirkungen sprechen. Sie können von verschiedener Art sein. Einmal ist es die Frage der Gesellschaft. Eine Enttäuschung in der Freundschaft. Wer hat sie nicht erlebt, wer war dadurch nicht erschüttert? Die Erschütterung ist noch immer kein Zeichen von Nervosität. Sie ist nur dann ein Zeichen von Nervosität und wird Nervosität, wenn sie anhält, wenn sie einen Dauerzustand bildet, wenn der Betreffende sich mit Mißtrauen von jedem Du abwendet, wenn er deutlich zeigt, daß er durch Scheu, Schüchternheit, körperliche Symptome, Herzklopfen, Schwitzen, Magen-Darmerscheinungen, Harndrang immer abgehalten wird, sich irgendwo anderen Menschen zu nähern, ein Zustand, der in der individualpsychologischen Beleuchtung klar spricht und sagt, daß dieser Mensch das Kontaktgefühl mit anderen nicht genügend entwickelt hat, was auch daraus hervorgeht, daß ihn seine Enttäuschung zur Isolierung gebracht hat. Nun sind wir dem Problem schon näher gerückt und können uns ein Verständnis über die Nervosität verschaffen. Wenn einer zum Beispiel im Beruf Geld verliert und erschüttert ist, so ist das noch keine Nervosität. Eine nervöse Erscheinung wird es erst, wenn er dabei stehenbleibt und nur erschüttert ist und sonst gar nichts. Das läßt sich nur erklären, wenn man versteht, daß dieser Mensch keinen genügenden Grad von Mitarbeit erworben hat, daß er nur bedingungsweise vorwärtsgeht, wenn ihm alles gelingt. Dasselbe gilt auch für die Liebesfrage. Sicherlich ist die Lösung der Liebesfrage keine Kleinigkeit. Es bedarf schon einer gewissen Erfahrung, Verständnisses, einer gewissen Verantwortung. Wenn da einer durch diese Frage in eine Aufregung und Irritation gerät, wenn er, einmal zurückgeschlagen, nie mehr vorwärts geht, wenn sich in diesem Rückzug vor dem genannten Problem auch alle Emotionen einfinden, die den Rückzug sichern, wenn er ein solches Urteil für das Leben gewinnt, daß er an dem Rückzug festhält, dann erst ist es Nervosität. Jeder wird im Trommelfeuer Schockwirkungen erleben, aber zur Dauer werden sie nur dann führen, wenn er nicht für die Aufgaben des Lebens vorbereitet ist. Er bleibt stecken. Dieses Steckenbleiben haben wir begründet, indem wir sagten: das sind Menschen, die zur Lösung aller Probleme nicht richtig vorbereitet sind, das sind keine richtigen Mitarbeiter von Kindheit an, aber wir müssen noch etwas mehr sagen: es ist ja doch ein Leiden, das wir in der Nervosität zu beobachten haben, es ist keine Annehmlichkeit. Wenn ich jemandem die Aufgabe stellte, er solle Kopfschmerzen erzeugen, wie sie angesichts eines Problems zustande kommen, zu dessen Lösung er nicht vorbereitet ist, wird er nicht imstande sein, es zu tun. Deswegen müssen wir alle Auseinandersetzungen, einer erzeuge sein Leiden, er wolle krank sein, alle diese unrichtigen Anschauungen müssen wir a limine beseitigen. Es ist keine Frage, daß der Betreffende leidet, aber er zieht diese Leiden noch immer jenen größeren vor, um nicht bei der Lösung wertlos zu erscheinen. Er nimmt lieber alle nervösen Leiden in Kauf als die Enthüllung seiner Wertlosigkeit. Beide, der nervöse und der nichtnervöse Mensch werden einer Feststellung ihrer Wertlosigkeit den größten Widerstand entgegensetzen, aber der Nervöse weit mehr. Vergegenwärtigt man sich die Überempfindlichkeit, Ungeduld, Affektsteigerung, den persönlichen Ehrgeiz, so wird man begreifen können, daß ein solcher Mensch nicht vorwärts zu bringen ist, solange er sich in Gefahr glaubt, daß sich seine Wertlosigkeit enthüllen werde. Welche Stimmungslage erfolgt nun, nachdem diese Schockwirkungen eingetreten sind? Er hat sie nicht erzeugt, er wünscht sie nicht, sie sind aber da als die Folgen einer seelischen Erschütterung, als Folgen eines Gefühls der Niederlage, als Folgen der Furcht, in seiner Wertlosigkeit enthüllt zu sein. Diese Wirkung, die da entsteht, zu bek ämpfen, hat er keine rechte Neigung, er versteht sich auch nicht leicht dazu, sich aus ihr zu befreien. Er würde sie wegwünschen, er wird darauf bestehen: ich möchte ja gesund werden, ich will von den Symptomen befreit sein. Deshalb geht er auch zum Arzt. Was er aber nicht weiß, ist, daß er etwas noch mehr fürchtet: als etwas Wertloses dazustehen; es könnte sich etwa das düstere Geheimnis entpuppen, daß er nichts wert sei. Wir sehen nun, was eigentlich Nervosität ist: ein Versuch, dem größeren Übel auszuweichen, ein Versuch, den Schein des Wertes um jeden Preis aufrecht zu erhalten, alle Kosten zu zahlen, aber gleichzeitig zu wünschen, dieses Ziel zu erreichen, auch ohne Kosten zu zahlen. Leider ist das unmöglich. Es geht nicht anders, als daß man dem Betreffenden eine bessere Vorbereitung für das Leben verschafft, daß man ihn besser einbettet, daß man ihn ermutigt, was nicht durch ein Aufpeitschen, durch Strafen, Härte, Zwang erreicht werden kann. Man weiß, wie viele Menschen fähig sind, wenn sie über eine gewisse Aktivität verfügen, sich lieber umzubringen, als die Probleme zu lösen. Das ist deutlich. Deshalb können wir von einem Zwang nichts erwarten, es muß eine systematische Vorbereitung eintreten, bis der Betreffende sich sicher fühlt, so daß er an die Lösung des Problems schreiten kann. Andererseits ist es ein Mensch, der glaubt, vor einem tiefen Abgrund zu stehen, der fürchtet, wenn er angetrieben wird, in den Abgrund zu stürzen, das heißt, daß seine Wertlosigkeit sich enthüllen würde.
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