Nichtsdestoweniger liebt es jeder, Objekt der Verzärtelung zu sein. Manche ganz besonders. Viele Mütter können nicht anders als verwöhnen. Glücklicherweise wehren sich viele Kinder so stark dagegen, daß der Schaden geringer ausfällt. Es ist eine harte Nuß mit psychologischen Formeln. Wir können sie nicht als strenge Richtlinien benützen, die blindlings zur Auffindung von Grundlagen einer Persönlichkeit Verwendung finden könnten oder zur Erklärung von Stellungnahmen und Charakteren. Wir müssen vielmehr in jeder Richtung eine Million von Varianten und Nuancen erwarten, und was wir gefunden zu haben glauben, muß stets mit gleichlaufenden Tatsachen verglichen und bestätigt werden. Denn wenn ein Kind sich gegen Verwöhnung stemmt, geht es gewöhnlich zu weit in seinem Widerstand und überträgt seine Gegenwehr auch auf Situationen, in denen freundliche Hilfe von außen einzig vernünftig wäre.
Wenn die Verwöhnung später im Leben Platz greift und nicht, wie so oft in solchen Fällen, mit Knebelung des freien Willens verknüpft ist, kann sie wohl dem Verwöhnten gelegentlich zum Überdruß werden. Aber sein in der Kindheit erworbener Lebensstil wird dadurch nicht mehr geändert.
Die Individualpsychologie behauptet, daß es keinen anderen Weg gibt, einen Menschen zu verstehen als die Betrachtung der Bewegungen, die er macht, um seine Lebensprobleme zu lösen. Das Wie und das Warum sind dabei sorgfältig zu beobachten. Sein Leben beginnt mit dem Besitz menschlicher Möglichkeiten, Entwicklungsmöglichkeiten, die sicherlich verschieden sind, ohne daß wir imstande wären, diese Verschiedenheiten aus anderem als aus seinen Leistungen zu erkennen. Was wir im Beginn des Lebens zu sehen bekommen, ist bereits stark beeinflußt durch äußere Umstände vom ersten Tag seiner Geburt. Beide Einflüsse, Heredität und Umwelt, werden zu seinem Besitz, den das Kind verwendet, gebraucht, um seinen Weg der Entwicklung zu finden. Weg aber und Bewegung können nicht ohne Richtung und Ziel gedacht oder eingeschlagen werden. Das Ziel der menschlichen Seele ist Überwindung, Vollkommenheit, Sicherheit, Überlegenheit .
Das Kind im Gebrauch der erlebten Einflüsse von Körper und Umwelt ist mehr oder weniger auf seine eigene schöpferische Kraft, auf sein Erraten eines Weges angewiesen. Die seiner Haltung zugrunde liegende Meinung vom Leben, weder in Worte gefaßt noch gedanklich ausgedrückt, ist sein eigenes Meisterstück. So kommt das Kind zu seinem Bewegungsgesetz, das ihm nach einigem Training zu jenem Lebensstil verhilft, in dem wir das Individuum sein ganzes Leben hindurch denken, fühlen und handeln sehen. Dieser Lebensstil ist fast immer in einer Situation erwachsen, in der dem Kinde die Unterstützung von außen gewiß ist. Unter mannigfachen Umständen erscheint ein solcher Lebensstil sich nicht als ganz geeignet zu bewähren, wenn draußen im Leben ein Handeln ohne liebevolle Hilfe nötig erscheint.
Da taucht nun die Frage auf, welche Haltung im Leben richtig ist, welche Lösung der Lebensfragen erwartet werden muß. Die Individualpsychologie trachtet soviel als möglich zur Lösung dieser Frage beizutragen. Niemand ist mit der absoluten Wahrheit gesegnet. Eine konkrete Lösung, die allgemein als richtig befunden werden müßte, muß wenigstens in zwei Punkten stichhaltig sein. Ein Gedanke, ein Gefühl, eine Handlung ist nur dann als richtig zu bezeichnen, wenn sie richtig ist sub specie aeternitatis (= auf ewige Sicht). Und ferner muß in ihr das Wohl der Gemeinschaft unanfechtbar beschlossen sein. Dies gilt sowohl für Traditionen, als für neu auftauchende Probleme. Und gilt auch für lebenswichtige wie für kleinere Fragen des Lebens. Die drei großen Lebensfragen, die jeder zu lösen hat und in seiner Art lösen muß, die Fragen der Gemeinschaft, der Arbeit und der Liebe, können nur von solchen Menschen annähernd richtig gelöst werden, die in sich das lebendig gewordene Streben nach einer Gemeinschaft tragen. Keine Frage, daß in neu auftauchenden Problemen eine Unsicherheit, ein Zweifel bestehen kann. Aber nur der Wille zur Gemeinschaft kann vor großen Fehlern bewahren.
Wenn wir bei solcher Untersuchung auf Typen stoßen, so sind wir nicht der Verpflichtung enthoben, das Einmalige des Einzelfalles zu finden. Dies gilt auch für verwöhnte Kinder, dieser sich auftürmenden Bürde für Elternhaus, Schule und Gesellschaft. Wir haben den Einzelfall zu finden, wenn es sich um schwererziehbare Kinder handelt, um nervöse oder wahnsinnige Personen, um Selbstmörder, Delinquenten, Süchtige, Perverse usf. Sie alle leiden an einem Mangel des Gemeinschaftsgefühls, der fast immer auf Verwöhnung in der Kindheit oder auf einen extremen Wunsch nach Verwöhnung und Erleichterung zurückzuführen ist.
Die aktive Haltung eines Menschen kann nur aus der richtig verstandenen Bewegung gegenüber den Lebensfragen erkannt werden. Ebenso ihr Mangel. Es bedeutet nichts für den Einzelfall, wenn man, wie es die Besitzpsychologen tun, irgendwelche fehlerhafte Symptome auf die dunklen Regionen einer unsicheren Erblichkeit zurückzuführen trachtet oder auf allgemein als ungeeignet angesehene Einflüsse der Umwelt, die das Kind ja doch mit einer gewissen Willkür aufnimmt, verdaut und beantwortet. Die Individualpsychologie ist die Psychologie des Gebrauches und betont die schöpferische Aneignung und Ausnützung aller dieser Einflüsse. Wer die stets verschiedenen Fragen des Lebens als gleichbleibend ansieht, ihre Einmaligkeit in jedem Falle nicht wahrnimmt, kann leicht dazu verleitet werden, an wirkende Ursachen, Triebe, Instinkte als dämonische Lenker des Schicksals zu glauben. Wer nicht wahrnimmt, daß für jedes Geschlecht stets neue Fragen auftauchen, die niemals vorher bestanden haben, kann an die Wirksamkeit eines erblichen Unbewußten denken. Die Individualpsychologie kennt zu genau das Tasten und Suchen, die künstlerische Leistung des menschlichen Geistes bei der Lösung seiner Probleme, sei sie richtig oder unrichtig. Es ist die Leistung des Einzelmenschen aus seinem Lebensstil heraus, die eine individuelle Lösung seiner Probleme bedingt. Viel von dem Wert der Typenlehre fällt hinweg, wenn man die Armut der menschlichen Sprache kennt. Wie verschieden sind die Beziehungen, die wir mit »Liebe« bezeichnen. Sind zwei in sich gekehrte Menschen jemals gleich? Ist es denkbar, daß das Leben zweier identischer Zwillinge, die � nebenbei � sehr oft den Wunsch und das Streben haben, identisch zu sein, hier unter dem wechselnden Mond je gleichförmig verlaufen kann? Wir können das Typische benützen, müssen es sogar, ebenso wie die Wahrscheinlichkeit, dürfen aber selbst bei Ähnlichkeiten nicht vergessen, welche Verschiedenheit das ja doch einmalige Individuum aufweist. Wir können uns in unserer Erwartung der Wahrscheinlichkeit bedienen, um das Gesichtsfeld zu beleuchten, in dem wir das Einmalige zu finden hoffen, müssen aber auf diese Hilfe verzichten, sobald uns Widersprüche entgegentreten.
Bei dem Suchen nach den Wurzeln des Gemeinschaftsgefühls, die Möglichkeit einer Entwicklung desselben beim Menschen vorausgesetzt, stoßen wir sofort auf die Mutter als den ersten und wichtigsten Führer. Die Natur hat sie dazu bestellt. Ihre Beziehung zu dem Kinde ist die einer innigen Kooperation (Lebens � und Arbeitsgemeinschaft), bei der beide gewinnen, nicht wie manche glauben, eine einseitige, sadistische Ausbeutung der Mutter durch das Kind. Der Vater, die anderen Kinder, die Verwandten und Nachbarn haben dieses Werk der Kooperation zu fördern, indem sie das Kind als einen gleichberechtigten Mitarbeiter zum Mitmenschen, nicht zum Gegenmenschen anleiten. Je mehr das Kind den Eindruck gewinnt von der Verläßlichkeit und Mitarbeit der anderen, um so eher wird es zum Mitleben und zum selbständigen Mitarbeiten geneigt sein. Es wird alles, was es besitzt, in den Dienst der Kooperation stellen.
Wo aber die Mutter allzudeutlich von übertriebener Zärtlichkeit überfließt und dem Kind die Mitarbeit in seinem Verhalten, Denken und Handeln, wohl auch im Sprechen, überflüssig macht, wird das Kind eher geneigt sein, sich parasitär (ausbeutend) zu entwickeln und alles von den anderen zu erwarten. Es wird sich immer in den Mittelpunkt drängen und bestrebt sein, alle anderen in seinen Dienst zu stellen. Es wird egoistische Tendenzen entfalten und es als sein Recht ansehen, die anderen zu unterdrücken, von ihnen immer verwöhnt zu werden, zu nehmen und nicht zu geben. Ein oder zwei Jahre eines solchen Trainings genügen, um der Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls und der Neigung zur Mitarbeit ein Ende zu setzen. Einmal in Anlehnung an andere, ein andermal in der Sucht, andere zu unterdrücken, stoßen sie sehr bald auf den für sie unüberwindlichen Widerstand einer Welt, die Mitmenschlichkeit, Mitarbeit verlangt. Ihrer Illusionen beraubt, beschuldigen sie die anderen und sehen im Leben immer nur das feindliche Prinzip. Ihre Fragen sind pessimistischer Art. »Was hat das Leben für einen Sinn?« »Warum soll ich meinen Nächsten lieben?« Wenn sie sich den legitimen Forderungen einer aktiven Gemeinschaftsidee fügen, so nur, weil sie anderseits den Rückstoß, die Strafe fürchten. Vor die Frage der Gemeinschaft, der Arbeit, der Liebe gestellt, finden sie nicht den Weg des sozialen Interesses, erleiden einen Schock, verspüren dessen Wirkung körperlich und geistig und treten den Rückzug an, bevor oder nachdem sie ihre sinngemäße Niederlage erlitten haben. Aber immer bleiben sie bei ihrer von Kindheit an gewohnten Haltung, daß ihnen ein Unrecht geschehen sei.
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