Abgesehen von den anderen Bewegungsformen gegenüber den Aufgaben des Liebeslebens finden wir in auffallender Weise bei den Perversionen die verengerte Aufmarschbreite . Es zeigt sich, daß die Aufmarschbreite nicht in normalem Ausmaße vorhanden ist, daß sie außerordentlich eingeengt ist, daß nur ein Teil des Problems gelöst wird, wie z. B. beim Fetischismus. Wichtig ist auch das Verständnis für die Tatsache, daß alle diese Bewegungsformen durch Ausschaltung der Norm auf ein Ziel der Überwindung von Minderwertigkeitsgefühlen gerichtet sind. Wenn wir die Bewegung betrachten, den Gebrauch, den einer von seinen Fähigkeiten macht, wobei ihn seine Meinung leitet, der Sinn, den er dem Leben unterschiebt, ohne es zu wissen, ohne es in Worte und Begriffe gebracht zu haben, wenn wir von diesem Standpunkt ausgehen, können wir erraten, welches Ziel der Überwindung ihm vorschweben muß, welche Genugtuung, die ihm als Überwindung erscheint, wenn er sich dem Liebesproblem nicht ganz hingibt, in einer Distanz bleibt oder langsamer vorgeht und die Zeit vertrödelt. Da könnte man auf das Beispiel des Fabius Maximus Cunctator hinweisen, der eine Schlacht gewann, weil er lange gezögert hatte, was aber wieder nur zeigt, daß man nicht starr an einer Regel festhalten darf. Dieses Ziel der Überwindung wird auch in den sexuellen Neurosen (Frigidität, Ejaculatio praecox usw.) klar. Das Problem wird berührt, aber in einer Distanz, in zögernder Haltung, ohne Kooperation, was nicht zur Lösung des Problems führt. In dieser Bewegungsform finden wir auch die Tendenz zur Ausschaltung, die am stärksten bei der reinen Homosexualität zutage tritt. Auch in anderen Fällen ist sie wirkend, wie beim Fetischismus und Sadismus. In letzterem finden wir eine starke Aggression, die nicht zur Lösung des Problems führt, und können eine eigenartige Form des Zögerns, der Ausschaltung wahrnehmen, in der eine Sexualerregung zur Unterdrückung des anderen führt, einen starken Ansturm, der zu einer mangelhaften, d. h. einseitigen Lösung eines Problems Anlaß gibt. Ebenso beim Masochismus, bei dem das Ziel der Überlegenheit in zweierlei Richtungen verstanden werden muß. Es ist klar, daß der Masochist seinem Partner Befehle gibt und daß er sich trotz seines Schwächegefühls als Befehlshaber des anderen empfindet. Gleichzeitig schaltet er die Möglichkeiten einer Niederlage bei normaler Aufmarschbreite aus. Er kommt durch einen Trick zur Überwindung der ängstlichen Spannung .
Wenn wir die individuelle Stellungnahme des Individuums betrachten, so finden wir folgendes: wenn einer eine bestimmte Bewegungsform einhält, ergibt es sich von selbst, daß er andere Formen der Lösung des Problems ausschaltet. Diese Ausschaltung ist keine zufällige; ebenso wie dieser Bewegungsvorgang trainiert ist, so ist auch die Ausschaltung trainiert. Es gibt keine sexuelle Perversion ohne Training. Das sieht freilich nur der, der auf die Bewegung achtet. Noch einen zweiten Gesichtspunkt werden wir scharf hervorheben müssen. Der normale Bewegungsvorgang wäre der, auf ein Problem loszugehen, um es in seiner Gänze zu lösen. Wir finden diese Vorbereitung gar nicht, wenn wir die vorhergehende Bewegung des Individuums betrachten. Wenn wir bis in die ersten Kinderjahre des Individuums zurückgehen, finden wir, daß in dieser Zeit, angeregt durch Einflüsse von außen, aus angeborenen Fähigkeiten und Möglichkeiten ein Prototyp gebildet wird. Was aber dieses Kind aus allen Einflüssen und dem Erlebnis seiner Organe macht, können wir vorher nicht wissen. Hier arbeitet das Kind im Reiche der Freiheit mit eigener schöpferischer Kraft. Man findet Wahrscheinlichkeiten in Hülle und Fülle; ich war immer bemüht, sie hervorzuheben und gleichzeitig ihre kausale Bedingtheit zu leugnen. Es ist nicht richtig, daß ein Kind, das mit einer Schwäche der endokrinen Organe zur Welt kommt, ein Neurotiker werden muß, aber es gibt eine gewisse Wahrscheinlichkeit, daß im allgemeinen gewisse Erlebnisse in annähernd ähnlicher Richtung sich manifestieren, wenn nicht die richtigen erzieherischen Einflüsse zugunsten des sozialen Kontaktes wirksam werden. Auch die Einflüsse des Milieus sind nicht derart, daß wir voraussagen könnten, was das Kind daraus machen wird. Hier gibt es tausend Möglichkeiten im Reiche der Freiheit und des Irrtums. Jeder wird einen Irrtum gestalten, weil niemand der absoluten Wahrheit habhaft werden kann. Es zeigt sich folgendes: Der Prototyp muß, um ein annähernd normaler Mensch zu werden, mit einem gewissen Impuls zur Mitarbeit versehen sein. Es hängt die ganze Entwicklung eines Menschen davon ab, wieviel Kontaktgefühl in seinem dritten, vierten, fünften Lebensjahr entwickelt ist. In dieser Zeit schon zeigt sich der Grad der Anschlußfähigkeit. Wenn man die Fehlschläge daraufhin betrachtet, so sieht man, daß alle fehlerhaften Bewegungsformen aus einem Mangel an Kontaktfähigkeit zu erklären sind. Noch mehr: wegen seiner Eigenart ist der Betreffende gezwungen, gegen jede andere Form zu protestieren, für die er nicht vorbereitet ist. Wir müssen im Urteil gegen diese Menschen tolerant sein, weil sie es nicht gelernt haben, das genügende Maß von sozialem Interesse zu entwickeln. Wer dies verstanden hat, versteht auch, daß das Liebesproblem ein soziales Problem ist, das von einem nicht gelöst werden kann, der für den anderen wenig Interesse aufbringt, auch nicht von einem gelöst werden kann, der es nicht in sich trägt, daß er an der Entwicklung der Menschheit mitbeteiligt ist. Der wird ein anderes Bewegungsgesetz haben als ein Mensch, der zur Lösung der Liebesfrage geeignet ist. So können wir von allen Perversen feststellen, daß sie nicht zu Mitgehenden geworden sind.
Wir können auch die Fehlerquellen herausfinden, die uns verstehen lassen, warum das Kind im Mangel an Kontaktfähigkeit irrtümlich steckengeblieben ist. Diejenige Erscheinung im gesellschaftlichen Leben, die den stärksten Anlaß zur mangelhaften Kontaktfähigkeit gibt, ist die Verwöhnung . Verwöhnte Kinder haben nur mit der verwöhnenden Person Kontakt und sind infolgedessen genötigt, alle anderen Personen auszuschalten. Für jede einzelne Perversion sind noch andere Einflüsse nachzuweisen. Man kann sagen: hier hat unter der Einwirkung dieses Erlebnisses das Kind sein Bewegungsgesetz so gestaltet, daß es die Frage seiner Beziehung zum anderen Geschlecht in dieser Richtung durchgeführt hat. Alle Perversen zeigen ihr Bewegungsgesetz nicht nur dem Liebesproblem gegenüber, sondern bei allen Prüfungen, für die sie nicht vorbereitet sind. Deswegen finden wir bei sexuellen Perversionen alle Charakterzüge der Neurose, wie Überempfindlichkeit, Ungeduld, Neigung zu Affektausbrüchen, Gier, wie sich ja auch alle Perversen damit rechtfertigen, daß sie wie unter Zwang stehen. Es ist eine gewisse Besitzgier, die darauf ausgeht, den Plan, der ihnen durch ihre Eigenart gegeben ist, durchzuführen, so daß man einen so starken Protest gegen eine andere Form findet, daß für den anderen auch Gefahren nicht ganz ausgeschlossen sind (Lustmord, Sadismus).
Ich möchte zeigen, wie sich das Training für eine bestimmte Form der sexuellen Perversion ermitteln läßt, eine Beobachtung, die uns zeigt, daß gewisse Perversionen auf Grund eines solchen Trainings entstehen können. Man muß das Training nicht am Material suchen, man muß verstehen, daß das Training auch gedanklich und im Traum durchgeführt werden kann. Das ist ein starker Hinweis der Individualpsychologie, weil viele glauben, daß z. B. ein perverser Traum ein Beweis für angeborene Homosexualität ist, während wir aus unserer Auffassung des Traumlebens feststellen können, daß dieser homosexuelle Traum zum Training gehört, genau so wie er dazu gehört, das Interesse für das gleiche Geschlecht zu entwickeln, für das andere auszuschalten. Dieses Training möchte ich an einem Falle zeigen, in einer Zeit, wo von sexuellen Perversionen noch nicht die Rede sein kann. Ich lege zwei Träume vor, um zu zeigen, daß man das Bewegungsgesetz auch im Traumleben findet. Wenn man mit individualpsychologischen Kenntnissen ausgestattet ist, wird man nicht davor zurückschrecken, in jedem kleinen Bruchstück die ganze Lebensform zu erforschen. Wir müssen aber auch im Trauminhalt die ganze Lebensform finden, nicht nur in den Traumgedanken, die freilich bei richtigem Verständnis und bei richtiger Bezugnahme auf den Lebensstil zum Verständnis der Stellungnahme eines Individuums zu einem vorliegenden Problem außerordentlich förderlich sind, einer Stellungnahme, die durch seinen fixierten Lebensstil erzwungen ist. Ich möchte dem Gedanken Ausdruck geben, daß es uns so geht, wie bei einer Detektivarbeit. Wir sind nicht mit allen Materialien, die wir zu unserer Aufgabe benötigen, gesegnet, wir müssen die Fähigkeit des Erratens außerordentlich steigern, um die Einheit des Individuums festzustellen.
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