Winnie starrte voraus.
»Regen Sie sich nur nicht auf, Mutter. Natürlich müssen Sie ihn sehen.«
»Nein, meine Liebe, ich will versuchen, ob es ohne das geht? Du hast ja nicht die Zeit, ihn zu begleiten, und wenn er dann wieder zerstreut ist und den Weg verliert und irgend jemand spricht ihn schroff an, dann vergißt er vielleicht Namen und Adresse und bleibt Tage und Tage lang verloren –«
Die Vorstellung eines Krüppelheims für den armen Stevie – wenn auch nur für die Dauer der Untersuchung – drückte ihr das Herz ab. Denn sie war eine stolze Frau. Winnies Blick war scharf und nachdrücklich geworden.
»Ich kann ihn nicht jede Woche selbst zu Ihnen bringen,« rief sie, »aber sorgen Sie sich nicht, Mutter, ich will schon trachten, daß er nicht für lange verloren geht.«
Sie fühlten eine eigene Erschütterung; durch die klappernden Fenster sah man etwas wie einen Ziegelhaufen; das furchtbare Rumpeln und Klirren hörte mit einem Schlage auf, und die beiden Frauen waren bestürzt. Was war geschehen? Sie saßen reglos, erschreckt in der tiefen Stille, bis der Schlag geöffnet wurde und ein rauhes, krampfhaftes Flüstern sich hören ließ:
»Wir sind da.«
Eine Reihe kleiner Giebelhäuser, jedes mit einem trübe erleuchteten Fenster im Erdgeschoß, stand rings um die dunkle Fläche eines grasbewachsenen Platzes, der mit Büschen bepflanzt und durch ein Gitter von der Straße mit ihrem Lichtergewirr und Verkehrslärm getrennt war.
Vor der Tür eines dieser armseligen Häuschen – des einen, das kein Licht im Erdgeschoß zeigte – hatte die Droschke gehalten. Frau Verlocs Mutter stieg als erste aus, rücklings, mit einem Schlüssel in der Hand. Winnie blieb am Randstein stehen, um den Kutscher zu bezahlen. Stevie half zuerst eine Menge kleiner Pakete ins Haus tragen, kam dann heraus und blieb unter einer Laterne stehen, die dem Stift gehörte. Der Kutscher blickte auf die Silbermünzen, die in seiner grimmen Riesentatze ganz klein und wie ein Sinnbild des elenden Lohnes wirkten, den ein Menschenkind während der kurzen Zeit seines Erdenwallens für alle Mühe und Plage zu erwarten hat.
Er war anständig bezahlt worden – mit vier Schillingstücken –, die er nun unbeweglich betrachtete, als enthielten sie die überraschende Lösung eines traurigen Problems. Die langsame Unterbringung dieses Schatzes in seiner Innentasche erforderte umständliches Herumwühlen in den Tiefen schäbiger Gewänder. Der Mann war eckig von Gestalt und wenig schmiegsam. Stevie, schmächtig, die Schultern ein wenig hochgezogen, die Hände tief in den Taschen seines warmen Überrocks vergraben, stand auf dem Bürgersteig und gaffte.
Der Kutscher unterbrach seine planvollen Bemühungen, wie von einer nebelhaften Erinnerung gepackt.
»Oh, da bist du ja, mein Junge«, zischelte er. »Du wirst ihn wiedererkennen, nicht wahr?«
Stevie gaffte das Pferd an, dessen Hinterteil infolge seiner Magerkeit unglaublich steil erschien. Der kurze, steife Schwanz schien in herzlosem Scherz hineingesteckt; und am anderen Ende bog sich der dünne, flache Hals, wie ein mit altem Pferdefell bezogenes Brett, tief zu Boden unter dem Gewicht des ungeheuren, knochigen Schädels. Die Ohren hingen nachlässig in verschiedenen Winkeln herunter. Die ganze grausige Mißgestalt dieses stummen Erdenpilgers, von Rippen und Rückgrat scharf durchzogen, ragte in die dumpfe Abendstille.
Der Kutscher tupfte mit dem Eisenhaken, der aus seinem ausgefransten, schmierigen Ärmel hervorragte, Stevie leicht gegen die Brust.
»Schau mal her, mein Junge, könnte es dir Spaß machen, so bis zwei Uhr in der Frühe hinter dem Roß da zu sitzen?«
Stevie sah geistesabwesend in die funkelnden, kleinen Augen mit den rotgeränderten Lidern.
»Er ist nicht lahm,« fuhr der andere in scharfem Flüstertone fort, »er hat keine offenen Stellen auf sich. Da steht er. Könnte es dir Spaß machen – – –«
Seine ausgeschriene, klanglose Stimme gab seiner Äußerung den Klang tiefsten Geheimnisses. In Stevies leerem Blick schimmerte Furcht auf.
»Du kannst gut schauen! Bis drei und vier Uhr in der Frühe, kalt und hungrig, immer nach Fahrgästen ausschauen und nach einem Schluck zu trinken.«
Seine lustigen, roten Wangen starrten von weißen Stoppeln, und wie Virgils Silen, mit den Flecken des Rebensafts im Gesicht, mit sizilischen Hirten von den olympischen Göttern sprach, so sprach nun er zu Stevie von der Häuslichkeit und dem Leben von Männern, deren Leiden groß sind, und die nicht unbedingt auf Unsterblichkeit rechnen können.
»Ich bin eine Nachtdroschke, das bin ich«, flüsterte er, zwischen Ruhmredigkeit und Verzweiflung. »Ich muß nehmen, was ich kriege. Ich habe ein Weib mit vier Kindern zu Hause.«
Die Ungeheuerlichkeit dieses Bekenntnisses zur Vaterschaft schien die Welt zu verblüffen. Ein Schweigen fiel ein. Die Flanken des alten Gauls, der für den apokalyptischen Reiter gemacht schien, schickten den Dampf hinauf in den Lichtkreis der wohltätigen Gaslaterne. Der Kutscher grunzte und fügte in geheimnisvollem Flüstertone hinzu:
»Man hat’s nicht leicht in dieser Welt!«
Stevies Gesicht hatte schon einige Zeit gezuckt; nun machte er seinen Gefühlen wie gewöhnlich in knappster Form Luft.
»Schlecht! Schlecht!« Sein Blick blieb starr auf die Rippen des Pferdes gerichtet, düster und eindringlich, als fürchtete er sich, ringsum die Schlechtigkeit der Welt zu treffen. Sein schmächtiger Wuchs, die rosigen Lippen und die blasse, reine Haut gaben ihm das Aussehen eines zarten Knaben, trotz dem goldigen Flaum auf den Wangen. In seinem Gaffen lag Furchtsamkeit, wie bei einem kleinen Kinde. Der Kutscher, kurz und breit, maß ihn mit dem Blick seiner wilden, kleinen Augen, die in einer wasserhellen Säure zu schwimmen schienen.
»Hart für Pferde, aber noch verdammt härter für arme Kerle wie mich«, ächzte er, gerade noch vernehmlich.
»Arm, arm!« stammelte Stevie, und stieß im Übermaß seines Mitleids die Hände tief in die Taschen. Er konnte nichts sagen; denn seine Zärtlichkeit für alle Mühseligen und Beladenen, seine Sehnsucht, die Pferde glücklich und den Kutscher glücklich zu machen, hatte sich bis zu dem lächerlichen Wunsch gesteigert, sie mit in sein Bett zu nehmen. Und er wußte, daß das unmöglich war. Denn Stevie war nicht verrückt. Es war sozusagen eine symbolische Sehnsucht. Dabei aber doch sehr deutlich, da sie aus der Erfahrung kam, der Mutter der Weisheit. Wenn er nämlich als Kind in einem dunklen Winkel gehockt hatte, erschreckt, bedrückt, gequält von dem schwarzen, schwarzen Elend in seinem Innern, da war oft seine Schwester Winnie gekommen und hatte ihn mit in ihr Bett genommen, wie in einen Hafen himmlischen Friedens. Stevie konnte reine Tatsachen vergessen, wie zum Beispiel seinen Namen und seine Adresse; für Empfindungen aber hatte er ein treues Gedächtnis. Voll Mitleid in ein Bett mitgenommen zu werden, war das letzte Heilmittel; es hatte nur den einzigen Nachteil, daß es sich nicht in größerem Maßstabe anwenden ließ. Das machte er sich völlig klar, während er den Kutscher ansah. Denn Stevie war nicht verrückt.
Der Kutscher fuhr in seinen gemächlichen Vorbereitungen fort, als wäre Stevie gar nicht dagewesen. Er traf Anstalten, auf den Bock zu klettern, stand aber im letzten Augenblick davon ab, unter dem Druck irgendeines dunklen Gefühls, vielleicht eines Abscheus vor dem Kutscherberuf. Er trat vielmehr zu seinem reglosen Arbeitsgefährten, beugte sich nach den Zügeln und hob mit einer Bewegung seines rechten Arms, wie um seine Kraft zu zeigen, das große, müde Haupt bis zu Schulterhöhe.
»Komm«, flüsterte er leise.
Dann führte er hinkend das Gefährt davon. Es lag etwas wie Kasteiung in diesem Aufbruch; der Kies des Fahrwegs knirschte unter den langsamen Rädern, die lahmen Beine des Pferdes bewegten sich mit asketischer Entschlossenheit aus dem Lichtkreis weg in die Finsternis des Platzes, der undeutlich von der Reihe spitzer Dächer und schwach erleuchteter Fenster der kleinen Stiftshäuser begrenzt war. Das klagende Knirschen des Kieses wanderte langsam rund um den Fahrweg. Zwischen den Laternen des Einfahrttores tauchte das Gefährt noch einmal im hellen Lichte auf: der kurze, dicke Mann, der, emsig hinkend, den Pferdekopf in der Faust hochhielt; das lahme Tier, das mit steifer, hilfloser Würde dahinstelzte; der dunkle, niedere Kasten auf Rädern, der lächerlich hinterdrein rollte, sozusagen watschelte. Sie wandten sich nach links. Dort in der Straße, fünfzig Schritt von dem Einfahrtstor, war eine Schänke.
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