Ich hatte die Alpenfahrt für den nächsten Tag aufgegeben. Ich beschloß, entweder in Winkelsteg schön Wetter abzuwarten, oder mittels eines Kohlenwagens wieder davonzufahren. Brauen im Gebirge selbst zur Sommerszeit ja doch oft wochenlang die feuchten Nebel, während draußen im Vorlande der helle Sonnenschein liegt.
Ehe ich mich ins Bett legte, wühlte ich noch ein wenig in den alten Papieren der Schublade herum. Da waren Musiknoten, Schreibübungen, Aufmerkblätter und allerhand so Geschreibe auf grobem, grauem Papier. Es war teils mit Bleistift, teils mit gelblichblasser Tinte, bald flüchtig, bald mit Fleiß geschrieben. Und da lagen zwischen Blättern gepreßte Pflanzen, entstaubte Schmetterlinge und eine Menge Tier- und Landschaftszeichnungen, auch eine Karte von Winkelsteg, zumeist gar recht unbeholfen gemacht. Aber ein Bild fiel mir doch auf, ein mit bunten Farben bemaltes, komisches Bild. Es stellte einen alten Mann dar. Der kauerte auf einem Baumstrunk und schmauchte eine langberohrte Pfeife. Auf dem Haupte, dessen Haare nach hinten gekämmt waren, hatte er eine plattgedrückte, schwarze Kappe mit einem breiten, waagrecht hinausstehenden Schilde. Aber ein Künstler war es doch, der das Bild gemacht; im Ausdruck des Angesichts war er zu spüren. Aus dem einen Auge, das ganz offenstand, blickte eine ernste und doch milde Seele heraus; aus dem andern, das halb geschlossen nur so blinzelte, sah ein wenig Schalkheit hervor. In einem Hause, aus dessen Fenstern solche Gäste lugen, ist's nicht gar sonderlich arm und öde. Über den vom wohlwollenden Künstler vielleicht doch zu rosig gehaltenen Wangen war es aber fast, als ob seinerzeit Wildbäche Furchen gerissen hätten. Völlig spaßhaft hingegen nahm sich auf dem sonst glattrasierten Gesichte der lange weiße Spitzbart aus; er war unter dem vorgebeugten Kopfe wie ein vom Kinne niederhängender Eiszapfen. Um den Hals war ein hellrotes Tuch mehrfach geschlungen und vorne mehrfach zusammengeknüpft. Dann kam der Wall des Rockkragens und der blaue Tuchrock selbst, ein Frack mit niederstrebenden Taschen, aus deren einer der launige Künstler gar ein Zipfelchen hervorlugen ließ. Der Rock war eng zugeknöpft bis hinauf unter dem Eiszapfen. Die Hose war grau, eng und sehr kurz; die Stiefel waren auch grau, aber weit und sehr lang. – So kauerte das Männchen da und hielt mit beiden Händen genußselig das lange Pfeifenrohr und schmauchte. Leichte Ringelchen und Herzchen bildete der Rauch ...
Der das Bild gemacht, ist ein großer Kauz gewesen; nach dem es gemacht, der ist noch ein größerer gewesen. Einer oder der andere war sicher der alte Schulmeister, der auf unerklärliche Weise verschwunden, nachdem er fünfzig Jahre im Orte Lehrer gewesen. – »Und unsichtbar steigt er in Winkelsteg herum, Tag und Nacht – zu jeder Stund'!«
Ich stieg ins Bett und lag und sann. Ich ahnte freilich nicht, wer das Haus gebaut und vor mir auf dieser Stätte geruht.
Die Glut im Ofen knisterte matt und matter und war im Absterben. Draußen rieselte der Regen, und doch lag eine Stille über allem, so daß mir war, als hörte ich das Atemholen der Nacht. – Ich war im Einschlummern; da erhob sich plötzlich ganz nahe über mir ein lebhaftes Schallen, und mehrmals hintereinander laut und lustig klang der Wachtelschlag. Ganz täuschend ähnlich waren die Laute dem lieblichen Rufe des Vogels im Kornfelde. Die alte Uhr war es gewesen, die mir so seltsam die elfte Stunde verkündet hatte.
Und der süße Wachtelschlag hatte mein Sinnen und Träumen entführt hinaus auf das lichte, sonnige Kornfeld zu den wiegenden Halmen, zu den blau leuchtenden Blumenaugen, zu den gaukelnden Schmetterlingen – und so war ich eingeschlafen an demselben Abende, im geheimnisvollen Schulhause zu Winkelsteg.
Wie mich der Wachtelschlag eingelullt hatte, so weckte mich der Wachtelschlag wieder auf. Es war des Morgens zur sechsten Stunde.
Im Stübchen atmete noch die weiche Wärme des Ofens; an den Wänden und auf der Decke lag es blaß wie Mondlicht. Und es mußte die Sonne schon am Himmel stehen; es war im Juli. Ich erhob mich und zog einen der blauen Fenstervorhänge zurück. Die großen Scheiben waren grau angelaufen; nur hie und da löste sich eine Tropfenperle und rollte hin und her zuckend nieder durch die unzähligen Bläschen und Tröpfchen, hinter sich einen schmalen Pfad ziehend, durch welchen das Dunkel des braunen Kirchendaches hereinblickte.
Ich öffnete das Fenster; frostige Luft ergoß sich in das Zimmer. Der Regen hatte aufgehört; an der Friedhofsmauer lag ein Wall zusammengeschwemmter Eiskörner, mit niedergeschlagenen Baumrinden und gebrochenen Reisigwimpeln gemischt. An der Kirchenwand lagen Schindelsplitter des Daches; die Fenster der Kirche waren mit Brettern geschützt. Einige Eschen standen am Platze, da tropfte es nieder von den wenigen Blättern, die der Hagel verschont hatte. Noch ragte dort das verschwommene Bild eines Rauchfanges; was weiter hin war, das deckte der Nebel.
Ich hatte den Gedanken an die Alpenwanderung heute gar nicht mehr hervorgeholt. Langsam zog ich mich an und betrachtete das Triebwerk der alten Schwarzwälderuhr, welches durch zwei aneinanderschlagende Holzplättchen den schmetternden Schlag der Wachtel so täuschend gab. Hernach wühlte ich, da es mir zum Frühstück noch zu zeitig war, eine Weile in den Papieren der Lade herum.
Ich bemerkte alsbald, daß außer den Zeichnungen, den Rechnungen und jenen Bogen, die zu Pflanzenmappen dienten, alle beschriebenen Blätter eine gleiche Größe hatten und mit roten Seitenzahlen versehen waren. Ich versuchte die Blätter zu ordnen und warf zuweilen einen Blick auf deren Inhalt. Es waren tagebuchartige Aufzeichnungen, die sich auf Winkelsteg bezogen. Die Schriften waren aber so voll von eigenartigen Ausdrücken und regellos geformten Sätzen, daß Studium und eine Art Übersetzung nötig schien, um sie der Verständlichkeit zuzuführen.
Die Mühe deuchte mir gleich anfangs nicht abschreckend, denn ich hoffte hier Urkunden des so entlegenen Alpendörfchens und vielleicht gar aus dem Leben des verschwundenen Schulmeisters zu finden. Indem ich emsig weiter ordnete und mit dieser Arbeit schon völlig zur Rüste kam, entdeckte ich plötzlich ein dickes graues Blatt, auf welchem mit großen roten Buchstaben geschrieben stand: Die Schriften des Waldschulmeisters.
So hatte ich nun gewissermaßen ein Buch zusammengestellt; und das Blatt mit den roten Lettern legte ich aufs Geratewohl obenan, als des Buches Überschrift.
Mittlerweile hatte meine Wachtel die achte Stunde verkündet, und auf dem Kirchturme läuteten zwei helle Glöcklein zur Messe. Der Pfarrer, ein schlanker Mann mit blassem Angesichte, schritt von seinem Hause die kleine Steintreppe heran zur Kirche. Einige Männer und Weiber zogen ihm nach, entblößten noch weit vor der Tür ihr Haupt oder zerrten die Rosenkranzschnur hervor und besprengten sich andächtig am Weihwasserkessel des Einganges.
Ich ging zur Tür hinaus und über den hügeligen Sandboden hin. Und ich ging, weil die Orgel gar so freundlich klang, zur Kirche hinein. Da war es auf den ersten Blick, wie es in jeder Dorfkirche ist – und doch ganz anders.
Je ärmer sonst so ein Kirchlein ist, desto mehr Silber und Gold sieht man an ihm funkeln; alle Leuchter und Gefäße sind von Silber, alle Verzierungen und Heiligenröcke und Engelsflügel und gar die Wolken des Himmels sind von Gold. Aber es ist nur Schein. Ich kann jenem Bauersmann nicht unrecht geben, der, als er in der Kirche einmal Mesnerdienste verrichten mußte und dabei, in nähere Bekanntschaft mit den Bildnissen und Altären gekommen, ausrief: »Wie unsere Heiligen von weitem funkeln und vornehm sind, so meint man, was der Tausend wir für Himmelsmänner haben, und wenn man sie in der Nähe anschaut, ist alles Holz.«
In der Kirche zu Winkelsteg fand ich das anders. Freilich war auch da alles aus Holz und größtenteils aus ganz gewöhnlichem Fichtenholz, aber es war nicht geschminkt mit Goldglanz, schreienden Farben, Geflunker und Gebänder und was sonst solchen Zierat gibt; es war, wie es war, und wollte nicht anders sein.
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