In seiner Wohnung fand er einen Brief vor, der auf der Adresse die Handschrift Sabinens zeigte. Er fühlte, wie ihm das Herz plötzlich stillestand. Was hatte sie ihm zu schreiben? Es konnte nur eines sein. Sie bat ihn, nicht mehr zu kommen. Der Handkuß gestern, er hatte es ja gleich gefühlt, der hatte alles verdorben. Solche Dinge standen ihm nun einmal nicht zu Gesicht. Er mußte unsäglich lächerlich gewesen sein in jenem Augenblick. Der Umschlag war plötzlich offen, Gräsler wußte selbst nicht wie, und er las:
»Lieber Freund! So darf ich Sie doch wohl nennen, nicht wahr? Heute abend kommen Sie 78 wieder, und Sie sollen diesen Brief noch früher haben. Denn wenn ich Ihnen nicht schreibe, wer weiß, ob Sie nicht heute abend gerade so fortgehen, wie Sie alle diese Tage und Abende von mir fortgegangen sind, und endlich wären Sie abgereist und hätten nichts gesprochen und sich am Ende noch eingebildet, daß es sehr klug und recht von Ihnen gewesen ist. So bleibt mir denn nichts übrig, als selbst zu sprechen oder vielmehr, da ich ja das doch nicht über mich brächte, Ihnen zu schreiben, was mir auf der Seele liegt. Also, lieber Herr Doktor Gräsler, mein lieber Freund Doktor Gräsler, hier schreibe ich es her, und Sie werden es lesen, und Sie werden sich vielleicht ein wenig freuen und werden es hoffentlich nicht unweiblich finden, und ich fühle, daß ich es niederschreiben darf – ich habe nichts dagegen, gar nichts, falls Sie mich etwa fragen wollten, ob ich Ihre Frau werden möchte. Da steht es nun einmal. Ja, ich will gern Ihre Frau werden. Denn ich empfinde eine so tiefe, herzliche Freundschaft zu Ihnen, wie noch zu keinem Menschen, den ich gekannt habe. Liebe ist es wohl nicht. Noch nicht. 79 Aber gewiß irgend etwas, was sehr nahe daran ist und es sehr wohl einmal werden könnte. Die letzten Tage, wenn Sie vom Abreisen sprachen, da ist mir wahrhaftig ganz sonderbar ums Herz geworden. Und als Sie heute abend meine Hand küßten, das war sehr schön. Aber als Sie dann davonfuhren, ins Dunkel hinein, da war mir mit einemmal, als wäre es aus, und ich hatte eine wahre Angst, daß Sie nie mehr zu uns wiederkommen wollten. Nun, das ist natürlich schon vorüber. Das sind so Nachtgedanken, nicht wahr? Ich weiß, Sie kommen wieder. Morgen abend schon. Ich weiß ja auch, daß Sie mir gerade so gut sind wie ich Ihnen. So was muß man ja wirklich nicht erst mit Worten sagen. Manchmal aber scheint mir, daß Sie an einem gewissen Mangel an Selbstvertrauen leiden. Ist es nicht so? Ich habe auch darüber nachgedacht, woher das kommen mag. Und ich glaube, es kommt daher, daß Sie noch nirgends Wurzel gefaßt, und weil Sie sich doch eigentlich Ihr ganzes Leben noch gar nicht Zeit genommen haben, darauf zu warten, daß sich Ihnen jemand so 80 recht von Herzen anschließt. Ja, das mag es wohl sein. Und vielleicht ist es noch etwas anderes, was Sie zögern macht. Es wird mir freilich etwas schwer, Ihnen das zu schreiben. Aber da ich nun einmal angefangen habe, kann ich doch wohl nicht mehr auf halbem Wege stehenbleiben. Also, Sie wissen, lieber Freund, daß ich einmal verlobt gewesen bin. Das sind nun vier Jahre her. Er war ein Arzt wie Sie. Mein Vater hat Ihnen wohl Andeutungen gemacht. Ich hab’ ihn sehr liebgehabt, und es war ein großer Schmerz, als ich ihn verlor. Er war so jung. Achtundzwanzig Jahre. Ich habe damals gedacht, daß nun alles für immer vorüber sei, wie man das eben so denkt in solchen Tagen. – Übrigens muß ich der Wahrheit gemäß gestehen, daß das nicht meine erste Liebe war. Vorher war es ein Sänger, für den ich geschwärmt hatte. Das war zu der Zeit, da mein Vater in allerbester Absicht mich in eine Laufbahn hineintreiben wollte, zu der ich gar nicht geboren war. Und das ist eigentlich das Leidenschaftlichste gewesen, was ich erlebt habe. Erlebt, das kann man zwar nicht sagen. Aber doch – 81 gefühlt. Und es hat recht dumm geendet. Der meinte eben ein Geschöpf von der Art vor sich zu haben, wie es ihm sonst in seinen Kreisen begegnete, und er benahm sich danach, und da war es aus. Aber das Sonderbare ist, daß ich heute noch an diesen Menschen viel öfter denke als an meinen Verlobten, der mir so teuer war. Sechs Monate lang sind wir verlobt gewesen. So; und nun kommt das, was ein bißchen schwer zu sagen ist. Wissen Sie nämlich, was ich mir denke, lieber Doktor Gräsler? Sie vermuten etwas, was nicht wahr ist; und das ist es, was Sie zögern macht. Es ist ja gewiß zugleich ein Beweis Ihrer Neigung für mich. Aber es ist doch auch – Sie werden mir schon verzeihen, wenn ich das sage – ein bißchen Pedanterie dabei oder Eitelkeit. Freilich, ich weiß wohl, eine recht verbreitete männliche Eitelkeit und Pedanterie. Aber ich will Ihnen eben sagen, daß Sie das weiter nicht bedrücken darf. Muß ich noch deutlicher werden? Also, mein lieber Freund, ich habe Ihnen keinerlei Geständnisse zu machen. Es war überhaupt, wenn ich so zurückdenke, eine merkwürdige Art von 82 Beziehung. Ich glaube nicht, daß er mich in den sechs Monaten öfter als zehnmal geküßt hat. Nein, was man einem guten Freund so in der Nacht alles schreibt, besonders wenn man sich denkt, daß man den Brief am Ende doch nicht absenden muß. Aber nicht wahr, der Brief hätte wohl gar keinen Sinn, wenn ich nicht alles schriebe, was mir eben durch den Kopf geht. Und doch, wie teuer war er mir. Vielleicht eben darum, weil er so ernst, so düster war. Er gehörte zu den Ärzten, es gibt ja nur wenige von der Art, die all das Elend, das sie mit ansehen müssen, selbst durchleiden. So war ihm das Leben furchtbar schwer, woher hätte er den Mut nehmen sollen, glücklich zu sein? Nun, ich hätte es ihn schon gelehrt mit der Zeit. Das traute ich mir wohl zu. Aber es hat eben anders kommen sollen. Ich will Ihnen auch sein Bild zeigen. Ich bewahre es natürlich auf. Das von dem andern, von dem Sänger, das hab’ ich nicht mehr. Ich hatte es nicht von ihm selbst bekommen sondern in einer Kunsthandlung gekauft, noch ehe ich ihn persönlich kannte. Was ich Ihnen wohl noch 83 alles erzählen werde! Es ist Mitternacht vorüber. Da sitz ich noch immer an meinem Tisch und habe gar keine Lust, fertig zu werden. Übrigens höre ich den Vater immer unten auf und ab gehen. Der hat nun wieder so unruhige Nächte. Wir haben uns doch recht wenig um ihn gekümmert in der letzten Zeit. Wir beide, lieber Doktor. Nun, das soll wieder anders werden. Ja, und nun will ich gleich noch etwas hierhersetzen, weil es mir eben einfällt. Sie müssen es nehmen, wie es gesagt ist. Der Vater meint nämlich, wegen des Sanatoriums, falls Sie die notwendige Summe nicht so ohne weiteres flüssig machen könnten, er stehe Ihnen gerne zur Verfügung. Er wäre, glaub’ ich, überhaupt bereit, sich finanziell an der Sache zu beteiligen. Und da wir gerade beim Sanatorium halten, und wenn Sie so ungefähr verstehen, was in diesem Brief da steht (ich mache es Ihnen wohl nicht allzu schwer), so können Sie die Annoncen und auch die Reisen vielleicht sparen, denn als Hausverwalterin empfehle ich mich mit dem allerbesten Gewissen. Und wäre es nicht wirklich hübsch, lieber 84 Doktor Gräsler, wenn wir zwei als Kameraden, bald hätte ich gesagt. als Kollegen, in der Anstalt zusammen arbeiten würden? Das Sanatorium nämlich, daß ich es Ihnen nur gestehe, das gefällt mir schon lange. Noch länger als der künftige Direktor. Die Lage und die Parkanlage sind ja wundervoll. Es ist ein Jammer, wie der Doktor Frank es hat verkommen lassen. Übrigens war es auch ein Fehler, daß in der letzten Zeit alle möglichen Kranken dort aufgenommen worden sind, die gar nicht hineingehören. Ich glaube, man müßte es wieder ausschließlich für Nervenleidende einrichten, selbstverständlich mit Ausschluß der wirklichen Geistesstörungen. Aber wohin gerate ich noch? Damit hat’s wohl noch Zeit – mindestens bis morgen für alle Fälle, auch wenn wir uns im übrigen nicht ganz verstehen sollten. Und Ihre Reisezeit könnten Sie jedenfalls dazu benützen, um in Berlin und in anderen großen Städten für die Anstalt Propaganda zu machen. Übrigens bin ich auch noch von meiner Krankenpflegezeit her mit einigen Berliner Professoren bekannt; vielleicht erinnern die sich meiner. Nun, 85 ich sehe, wie Sie lächeln. Ich muß es wohl hinnehmen. So ein Brief ist ja keine ganz gewöhnliche Sache. Das weiß ich wohl. Boshafte Menschen könnten sich irgend etwas denken von an den Hals werfen oder dergleichen. Aber Sie sind kein boshafter Mensch und fassen den Brief so auf, wie er geschrieben ist. Ich habe Sie lieb, mein Freund, nicht eben, wie es in Romanen steht, aber doch so recht von Herzen! Und ein wenig kommt wohl auch dazu, daß es mir so leid tut, wie allein Sie in der Welt herumziehen. Es ist wahrhaftig ganz gut möglich, daß ich diesen Brief niemals geschrieben hätte, wenn Ihre gute Schwester noch lebte. Sie war gut, ich weiß es. Und vielleicht hab’ ich Sie auch lieb, weil ich Sie als Arzt schätze. Ja. das tue ich. Mau könnte Sie zwar manchmal ein wenig kühl finden. Aber das ist wohl nur Ihre Art sich zu geben, im Innersten sind Sie gewiß teilnehmend und gut. Und das Wesentliche ist, man hat sofort Vertrauen zu Ihnen, wie es sich ja bei Mutter und Vater gezeigt hat, und damit, mein lieber Herr Doktor Gräsler, hat es doch wohl überhaupt 86 angefangen. Und wenn Sie morgen kommen, – ich will’s Ihnen nicht schwer machen – da müssen Sie nur so lächeln oder mir wieder die Hand küssen, so wie heute abend beim Abschied, dann werde ich schon wissen. Und wenn es anders sein sollte, als ich es mir einbilde, so sagen Sie mir’s eben geradeheraus. Das können Sie ruhig tun. Dann werde ich Ihnen die Hand reichen, und mir denken, es waren schöne Stunden heuer im Sommer; man muß nicht gleich unbescheiden sein und Frau Doktor oder gar Frau Direktor werden wollen, worauf es mir übrigens wirklich nicht sonderlich ankommt. Und nun merken Sie wohl auf, Sie mögen sich dann auch eine andere Frau mitbringen im nächsten Jahr, irgendeine schöne Fremde aus Lanzarote, eine Amerikanerin oder eine Australierin, aber eine echte – es bleibt jedenfalls dabei, daß ich die Bauarbeiten in der Anstalt überwache, falls es mit dieser Sache ernst wird. Denn das sind ja zwei Dinge, die im Grunde gar nichts miteinander zu tun haben. Aber nun wird es doch wohl endlich genug sein. Recht neugierig bin ich ja, ob ich Ihnen das 87 Briefchen morgen früh schicken werde? Was glauben Sie? Nun, leben Sie wohl. Auf Wiedersehen! Ich bin Ihnen gut und bleibe, wie immer es werden mag, Ihre Freundin Sabine.«
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