So kam es, daß ihr Verschwinden heute früh nach einer Hochzeitsreise von vierzehn Tagen, daß auch ihr seltsamer Brief ihn nur erschüttert hatte, ohne ihn eigentlich zu überraschen. Er hätte sie und sich zu erniedrigen geglaubt, wenn er geforscht hätte. Wer sie ihm genommen hatte, ob eine Laune, ob ein Traum, ob ein lebendiger Mensch, war ja völlig gleichgültig; er wußte nichts und brauchte nicht mehr zu wissen, als daß sie ihm nicht mehr gehörte. Vielleicht war es sogar gut, daß das Unvermeidliche so früh gekommen war. Sein Vermögen war durch den Kauf des Hauses auf das Geringste zusammengeschmolzen, und von seinem kleinen Gehalt konnten sie beide nicht leben. Mit ihr von Einschränkungen und von den gewöhnlichen Sorgen des Alltags zu reden, wäre ihm in jedem Fall unmöglich gewesen. Einen Moment fuhr es ihm durch den Sinn, von ihr Abschied zu nehmen. Sein Blick fiel auf die Bettdecke, wo der beschriebene Zettel lag. Der flüchtige Einfall kam ihm, auf die weiße Seite ein kurzes Wort der Erklärung hinzuschreiben. Aber in der deutlichen Empfindung, daß ein solches Wort für Katharina nicht das geringste Interesse haben könnte, stand er wieder davon ab. Er öffnete die Handtasche, steckte einen kleinen Revolver zu sich und gedachte, irgendwo hinaus vor die Stadt zu wandern, um dort mit Anstand, und ohne jemanden zu stören, seine Tat zu verüben.
Ein Sommermorgen von dunkelblauer Klarheit und vorzeitiger Schwüle lag über der Stadt. Albert ging geradeaus fort. Er war noch nicht hundert Schritte weit vom Hotel entfernt, als er Katharinens Gestalt vor sich erblickte. Sie hielt ihren grauseidenen Sonnenschirm in der Hand und ging langsam des Weges. Die erste Regung Alberts war, in eine andere Straße abzubiegen; aber eine Macht, die heftiger war als alle seine Vorsätze und Überlegungen, drängte ihn, ihr zu folgen, um sich nun doch die Gewissheit zu verschaffen, der er vor einer Minute noch mit Gleichgültigkeit gegenüberzustehen geglaubt hatte. Er bekam sogar einige Angst, daß sie sich umwenden und ihn entdecken könnte. Sie nahm den Weg dem Hofgarten zu, er hielt sich in gemessener Entfernung. Jetzt war sie bei der Hofkirche angelangt, deren Tor offenstand. Sie trat ein. Albert folgte ihr nach einigen Augenblicken. Er blieb in der Nähe des Eingangs im tiefen Schatten stehen; er sah, wie Katharina langsam durch das Mittelschiff zwischen den dunklen Bildsäulen der Helden und Königinnen hindurchschritt. Plötzlich hielt sie inne. Albert entfernte sich von dem Platz, wo er bisher gewartet, und schlich in einem weiten Bogen hinter das Grabmal des Kaisers Maximilian, das gewaltig in der Mitte der Kirche ragte. Katharina stand regungslos vor der Statue des Theodorich. Die Linke auf den Degen gestützt, blickte der erzene Held wie aus ewigen Augen vor sich hin. Seine Haltung war von erhabener Müdigkeit, als sei er sich zugleich der Größe und der Zwecklosigkeit seiner Taten bewußt, und als ginge sein ganzer Stolz in Schwermut unter. Katharina stand vor der Bildsäule und starrte dem Gotenkönig ins Antlitz. Albert blieb einige Zeit in der Verborgenheit, dann wagte er sich vor. Sie hätte die Schritte hören müssen, aber sie wandte sich nicht um; wie gebannt blieb sie auf derselben Stelle. Leute kamen in die Kirche, Fremde mit roten Reisebüchern, man sprach neben ihr, hinter ihr, sie hörte nichts. Es wurde eine Weile stiller, Katharina stand wie früher, in ihrer Bewegungslosigkeit selber einer Bildsäule gleich. Eine neue Viertelstunde und wieder ein verging. Katharina rührte sich nicht.
Albert ging. Am Ausgang wandte er sich noch einmal um; da sah er, wie Katharina an die Statue herangetreten war und mit ihren Lippen den erzenen Fuß berührte. Eilig entfernte sich Albert. Er lächelte. Ein Einfall kam ihm, der ihn mit einer Art von Rührung erfüllte und dessen er sich freute. Nun hatte er noch etwas für die Geliebte zu tun, bevor er dahinging. Er nahm den Weg zu einer Kunsthandlung in der Bahnhofstraße; dort fragte er, ob eine Bronzenachahmung des Theodorich in natürlicher Größe zu beschaffen sei. Ein Zufall wollte es, daß eine solche vor einem Monat fertig geworden war; der Besteller, ein Lord, war gestorben, und die Erben weigerten sich, das Kunstwerk zu übernehmen. Albert fragte nach dem Preis. Er entsprach ungefähr dem Rest seines Vermögens. Albert gab seine Wiener Adresse an und erteilte genaue Weisung, in welcher Art ein Vertrauensmann der Firma die Aufstellung im Garten des Häuschens besorgen sollte. Dann empfahl er sich, eilte durch die Stadt, nahm den Weg durch die Vorstadt Wilten gegen Igls zu, und im Wäldchen erschoß er sich, gerade als die Sonne Mittag zeigte.
Katharina kehrte erst einige Wochen nach diesem Vorfall nach Wien zurück. Indessen war Albert in der Grazer Familiengruft beigesetzt worden. Am Abend ihrer Ankunft stand Katharina eine geraume Weile im Garten vor der Bildsäule, die unter hohen Bäumen einen schönen Platz gefunden. Dann begab sie sich in ihr Zimmer und schrieb einen längeren Brief nach Verona postlagernd an Andrea Geraldini. So hatte sich nämlich ein Herr genannt, der ihr von der Hofkirche aus gefolgt war, als sie Theodorich den Großen verlassen hatte, und von dem sie ein Kind unter dem Herzen trug. Ob das auch der richtige Name des Herrn war, erfuhr sie nie; denn sie erhielt keine Antwort.
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Das Schiff lag zur Abfahrt bereit. Doktor Gräsler, dunkel gekleidet, in offenem grauen Überzieher mit schwarzer Armbinde, stand auf dem Verdeck, ihm gegenüber barhaupt der Hoteldirektor, dessen braunes, glattgescheiteltes Haar sich trotz des leisen Küstenwindes kaum bewegte. »Lieber Doktor,« äußerte der Direktor, mit dem ihm eigenen Tone von Herablassung, der dem Doktor Gräsler seit jeher so unangenehm gewesen war, »ich wiederhole, wir rechnen mit Sicherheit darauf, Sie im nächsten Jahr wieder bei uns zu haben, trotz des höchst beklagenswerten Unglücksfalles, der Sie hier betroffen hat.« Doktor Gräsler antwortete nichts, sondern schaute mit feuchten Augen zum Ufer der Insel hin, von wo das große Hotelgebäude mit den der Hitze wegen festgeschlossenen weißen Fensterläden grell herüberleuchtete; dann 8 schweifte sein Blick weiter über die verschlafenen gelblichen Häuser und verstaubten Gärten, die im Mittagssonnendunst träge straßaufwärts schlichen, bis zu den spärlichen alten Mauerresten, die die Hügel kränzten. »Unsere Gäste,« sprach der Direktor weiter, »von denen einige im nächsten Jahr wiederkommen dürften, haben Sie schätzen gelernt, lieber Doktor, und so hoffen wir zuversichtlich, daß Sie die kleine Villa,« er wies nach einem bescheidenen, hellen Häuschen in der Nachbarschaft des Hotels, »trotz der traurigen Erinnerung, die sie für Sie birgt, wieder beziehen werden, um so mehr, als wir Ihnen für die Hochsaison Nummer dreiundvierzig begreiflicherweise nicht zur Verfügung stellen könnten.« Und als Gräsler trübe den Kopf schüttelte und, den steifen, schwarzen Hut abnehmend, mit der linken Hand über sein straffes, blondes, etwas angegrautes Haar strich –: »O, mein lieber Doktor, die Zeit wirkt Wunder. Und wenn Sie sich vielleicht vor dem Alleinsein in dem kleinen weißen Haus fürchten, dagegen gibt es ja ein Mittel. Bringen Sie sich doch eine kleine, nette Frau aus Deutschland mit.« Und da 9 Gräsler darauf nur mit einem zagen Augenaufschlag erwiderte, fuhr der Direktor lebhaft, fast befehlend, fort: »Ach, ich bitte Sie, zehn für eine. Eine nette, kleine, blonde Frau, sie kann übrigens auch brünett sein, das ist vielleicht das einzige, was Ihnen zur Vollkommenheit fehlt.« Doktor Gräsler zog die Brauen hoch, als folgten seine Augen schwindenden Bildern der Vergangenheit. »Nun, wie immer,« schloß der Direktor leutselig, »so oder anders, ledig oder vermählt, Sie werden uns in jedem Falle willkommen sein. Und am 27. Oktober, wenn ich bitten darf, wie besprochen, nicht wahr? Sonst könnten Sie bei den trotz unserer Bemühungen leider noch immer recht mangelhaften Schiffsverbindungen erst am 10. November eintreffen, was uns, da wir ja schon am 1. eröffnen« – und nun hatte er den etwas schnarrenden Leutnantston, den der Doktor garnicht leiden mochte – »nicht gerade erwünscht wäre.« Dann schüttelte er dem Doktor die Hand überaus heftig – eine Angewohnheit, die er aus den Vereinigten Staaten mitgebracht hatte –, tauschte einen flüchtigen Gruß mit einem eben 10 vorübergehenden Schiffsoffizier, eilte die Treppe hinunter und war bald darauf auf der Landungsbrücke zu sehen, von wo er noch einmal dem Doktor zunickte, der immer noch, den Hut in der Hand, melancholisch an der Brüstung des Verdecks stand. Wenige Minuten darauf stieß der Dampfer vom Lande ab.
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