Schon an der Türe teilte ihr das Dienstmädchen mit, daß Hugo und ein anderer junger Herr sich im Garten befänden, und ferner, daß die Post ein Paket gebracht hätte. Beate fand es in ihrem Zimmer liegen und lächelte befriedigt. Meinte das Schicksal es nicht gut mit ihr, daß es aus ihrer überflüssigen kleinen Lüge unversehens eine Wahrheit gemacht hatte? Oder sollte das vielleicht nur warnend bedeuten: Diesmal geht’s dir noch hin? Das Paket kam von Doktor Teichmann. Es enthielt Bücher, deren Zusendung er ihr versprochen hatte: Memoiren und Briefe großer Staatsmänner und Feldherren, von Persönlichkeiten also, denen der kleine Advokat, wie Beate bekannt war, die höchste Bewunderung entgegenbrachte. Beate ließ sich vorläufig an der Betrachtung der Titelblätter genügen, legte in ihrem Schlafzimmer den Hut ab, nahm einen Schal um die Schultern und begab sich in den Garten. Unten am Zaun erblickte sie die Buben, die, ohne sie zu bemerken, ununterbrochen wie toll in die Höhe sprangen. Als Beate nähertrat, sah sie, daß beide die Röcke abgelegt hatten. Nun lief Hugo ihr entgegen und küßte sie, nach Wochen zum erstenmal, kindlich stürmisch auf beide Wangen. Fritz schlüpfte eilig in seinen Rock, verbeugte sich und küßte Beate die Hand. Sie lächelte. Es war ihr, wie wenn er jenen andern melancholischen Kuß durch die Berührung seiner jungen Lippen weghauchen wollte.
»Ja, was treibt ihr denn da?« fragte Beate.
»Kampf um die Weltmeisterschaft im Hochsprung«, erklärte Fritz.
Die hohen Ähren jenseits des Zauns bewegten sich im Abendwind. Unten lag der See mattgrau und erloschen. »Du könntest dir auch den Rock anziehen, Hugo«, sagte Beate und strich ihm zärtlich das feuchte Blondhaar aus der Stirn. Hugo gehorchte. Beate fiel es auf, daß ihr Bub gegenüber seinem Freunde etwas unelegant und knabenhaft aussah, aber es berührte sie zugleich angenehm.
»Also denk’ dir, Mutter,« sagte Hugo, »der Fritz will mit dem Halb-neun-Uhr-Zug wieder nach Ischl zurück.«
»Warum denn?«
»Kein Zimmer zu kriegen, gnädige Frau. Erst in zwei, drei Tagen wird vielleicht eins frei.«
»Deswegen werden Sie doch nicht zurückfahren, Herr Fritz? Wir haben ja Platz für Sie.«
»Ich hab’ ihm schon gesagt, Mutter, daß du gewiß nichts dagegen haben wirst.«
»Aber was sollte ich denn dagegen haben. Selbstverständlich übernachten Sie oben im Fremdenzimmer. Wozu haben wir’s denn?«
»Gnädige Frau, ich möchte um keinen Preis Ungelegenheiten machen. Ich weiß, wie meine Mama immer außer sich ist, wenn wir in Ischl Logierbesuch kriegen.«
»Also bei uns ist das anders, Herr Fritz.«
Und man einigte sich, daß das Gepäck des jungen Herrn Weber aus dem Posthof, wo es vorläufig in Verwahrung lag, heraufgeschafft und daß er bis auf weiteres in der Mansarde wohnen sollte, wogegen Beate sich feierlich verpflichtete, ihn einfach »Fritz« ohne »Herr« zu nennen.
Beate gab im Hause die nötigen Anordnungen, hielt es für passend, die jungen Leute für einige Zeit sich selbst zu überlassen und erschien erst wieder beim Abendessen in der Glasveranda. Zum erstenmal seit vielen Tagen zeigte sich Hugo von unbefangener Lustigkeit; und auch Fritz hatte es aufgegeben, den erwachsenen jungen Herrn zu spielen. Zwei Schulbuben saßen am Tisch, die gewohntermaßen damit anfingen, ihre Professoren durchzuhecheln, um sich dann sachlich über die Aussichten des nächsten letzten Gymnasialjahres und endlich über fernere Zukunftspläne zu unterhalten. Fritz Weber, der Mediziner werden wollte, hatte, wie er erzählte, schon im verflossenen Winter einmal den Seziersaal besucht und ließ durchblicken, daß andere Gymnasiasten so gewaltigen Eindrücken kaum gewachsen sein dürften. Hugo seinerseits war seit lange entschlossen, sich der Altertumsforschung zu widmen. Er besaß eine kleine Sammlung von Antiquitäten: eine pompejanische Lampe, ein Stückchen Mosaik aus den Thermen des Caracalla, ein Pistolenschloß aus der Franzosenzeit und dergleichen mehr. Demnächst gedachte er übrigens hier am See Grabungen anzustellen, und zwar drüben im Auwinkel, wo Reste von Pfahlbauten entdeckt worden wären. Fritz verhehlte nicht seine Zweifel hinsichtlich der Echtheit von Hugos Museumsstücken. Insbesondere jenes Pistolenschloß, das Hugo persönlich auf der Türkenschanze gefunden hatte, war ihm immer verdächtig gewesen. Beate meinte, für solchen Skeptizismus sei Fritz doch noch zu jung, worauf dieser erwiderte, das habe nichts mit dem Alter zu tun, das sei Anlage. Mein Hugo, dachte Beate, ist mir lieber als dieser frühreife Bengel. Freilich, er wird es schwerer haben. Sie sah ihn an. Seine Augen blickten in irgendeine Ferne, wohin Fritz ihm gewiß nicht folgen konnte. Beate dachte weiter: Er hat natürlich keine Ahnung, was diese Fortunata für eine Person ist. Wer weiß, was er sich einbildet. Sie ist für ihn vielleicht eine Art Märchenprinzessin, die ein böser Zauberer gefangen hält. Wie er nur dasitzt mit seinem zerstrubelten blonden Haar und der unordentlichen Krawatte. Und es ist auch noch immer sein Kindermund, der volle rote, süße Kindermund! Freilich, den hatte sein Vater auch. Immer diesen Kindermund und diese Kinderaugen. Und sie sah ins Dunkel hinaus, das über der Wiese hing, so schwer und schwarz, als sei der Wald selbst bis vors Fenster gerückt.
»Ist es erlaubt, zu rauchen?« fragte Fritz. Beate nickte, worauf Fritz eine silberne Zigarettentasche mit goldenem Monogramm zum Vorschein brachte und sie anmutig der Hausfrau darbot. Beate nahm eine Zigarette, ließ sich Feuer geben und erfuhr, daß Fritz seinen Tabak direkt aus Alexandrien beziehe. Auch Hugo rauchte heute. Es war, so gestand er, genau die siebente Zigarette seines Lebens. Fritz vermochte die seinen längst nicht mehr zu zählen. Übrigens hatte er die Dose von seinem Vater geschenkt erhalten, der glücklicherweise vorgeschrittene Ansichten hegte, und er berichtete gleich das Neueste: seine Schwester würde Matura ablegen in drei Jahren und wahrscheinlich Medizin studieren, geradeso wie er selber. Beate warf einen raschen Blick auf Hugo, der leicht errötete. War es am Ende noch die Liebe zur kleinen Elise, die er im Herzen trug —, und die an dem schmerzlich gespannten Zug um seine Lippen schuld hatte? »Könnte man nicht noch ein bißchen rudern?« fragte Fritz. »Es ist eine so schöne Nacht, und so warm.«
»Warten Sie lieber auf Mondschein«, meinte Beate. »Es ist gar zu unheimlich, in solchen schwarzen Nächten da draußen herumzufahren.«
»Das find’ ich auch«, sagte Hugo. Fritz zuckte verächtlich die Nasenflügel. Dann aber einigten sich die Buben dahin, daß sie zur Feier des Tags auf der Terrasse des Seehotels Eis essen wollten.
»Ihr Lumpen«, sagte Beate mit einem matten Abschiedsscherz, als sie gingen.
Dann sah sie oben in der Mansarde nach, ob alles in Ordnung wäre, und wirtschaftete ihrer Gewohnheit nach noch ein wenig im Hause herum. Endlich begab sie sich in ihr Schlafzimmer, kleidete sich aus und legte sich zu Bett. Bald hörte sie draußen Gepolter und eine Männerstimme; offenbar hatte der Lohndiener Fritzens Koffer gebracht, der nun über die Holztreppe hinaufgeschafft wurde. Dann folgte noch ein Getuschel zwischen dem Stubenmädchen und dem Lohndiener, das länger dauerte, als dringend notwendig war; endlich wurde es still. Beate nahm sich eines der heroischen Bücher aus der Teichmannschen Sendung und begann die Denkwürdigkeiten eines französischen Reitergenerals zu lesen. Aber sie war nicht recht bei der Sache, unruhig und müde zugleich. Es schien ihr, als wenn gerade die tiefe Stille ringsum sie nicht schlafen ließe. Nach geraumer Zeit hörte sie die Haustür gehen, gleich darauf leise Schritte, Flüstern, Lachen. Das waren die Buben! Über die Treppe versuchten sie möglichst geräuschlos hinaufzugelangen. Dann kam von oben ein Rücken, ein Knarren, ein Raunen; — dann wieder gedämpfte Schritte die Treppe hinab. Das war Hugo, der sich in sein Zimmer zur Ruhe begab. Und nun war alles im Hause verstummt. Beate legte das Buch zur Seite, drehte das Licht aus und schlief beruhigt, ja in einer fast beglückten Stimmung ein.
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