1 ...7 8 9 11 12 13 ...21 Harald zahlte und ließ sich auf eine Diskussion über Achterbahnen und die Vorzüge und Nachteile des Riesenrads und des Thunderbolds ein. Puderdosen wurden hervorgezogen, Pelze zusammengerafft, Terminkalender aus dunkelblauem Englischleder befragt. Der Raum war voll Bewegung und Gelächter. »Wie ist Pokey nur darauf gekommen?« – »Ein perfekter Abschluss einer perfekten Hochzeit!« – »Genau das Richtige!«, schallte es hin und her, während man sich die Handschuhe überstreifte.
Die Gesellschaft ergoss sich hinaus auf die Straße. Der Radiofritze, der seinen Fotoapparat vorher in der Garderobe gelassen hatte, machte auf dem Bürgersteig Aufnahmen in der strahlenden Junisonne. Dann zogen sie alle miteinander unter den Blicken gaffender Passanten durch die 8th Street zur Untergrundbahnstation Astor Place und marschierten zum Drehkreuz. »Kay muss uns jetzt ihren Strauß zuwerfen!«, kreischte Libby MacAusland und reckte sich auf ihren langen Beinen wie ein Basketballspieler, während eine neugierige Menschenmenge sie umdrängte. »Mein Schatz ist von Vassar, keine reicht ihr das Wasser«, intonierte der Radiomensch. Harald zog zwei Geldstücke aus der Tasche und die Neuvermählten schritten durch das Drehkreuz. Kay, die nach allgemeiner Meinung noch nie so hübsch ausgesehen hatte, wandte sich um und warf ihren Brautstrauß in die Luft und über die Sperre hinweg den wartenden Mädchen zu. Libby sprang in die Höhe und fing ihn auf, obgleich er auf Priss, die hinter ihr stand, abgezielt war. In diesem Augenblick überraschte Lakey sie alle. Die braun eingewickelten Pakete, die sie dem Kellner zur Aufbewahrung gegeben hatte, enthielten nämlich Reis. »Also darum bist du ausgestiegen?«, rief Dottie staunend, als die Hochzeitsgesellschaft zugriff und Braut und Bräutigam mit Reis bewarf. Der Bahnsteig war mit weißen Körnern besät, als der Zug schließlich einfuhr. »Das ist kitschig! Das passt gar nicht zu dir, Eastlake!«, schrie Kay, während sich die Zugtüren schlossen. Beim Auseinandergehen fand jeder, dass es zwar nicht zu Lakey passte, aber, ob kitschig oder nicht, genau der richtige Abschluss für ein unvergessliches Ereignis gewesen war.
Ganz zu Anfang, im dunklen Treppenhaus, war Dottie recht sonderbar zumute. Da schlich sie nun, erst zwei Tage nach Kays Hochzeit, zu einem Zimmer hinauf, das ausgerechnet Haralds ehemaligem Zimmer gegenüberlag, wo mit Kay das Gleiche passiert war. Ein beklemmendes Gefühl – wie früher, wenn die Clique zur gleichen Zeit ihre Tage bekam. Man wurde sich auf eigentümliche Weise seiner Weiblichkeit bewusst, die wie die Gezeiten des Meeres der Mond regierte. Seltsame, belanglose Gedanken gingen Dottie durch den Kopf, als der Türschlüssel sich im Schloss bewegte und sie sich zum ersten Mal allein mit einem Mann in dessen Wohnung befand. Heute war Mittsommernacht, die Nacht der Sonnenwende, da die Mädchen ihr höchstes Gut darbrachten, damit es reiche Ernte gebe. Das wusste sie von ihren folkloristischen Studien über den Sommernachtstraum . Ihr Shakespeare-Lehrer war sehr an Anthropologie interessiert. Er hatte sie im Frazer die alten Fruchtbarkeitsriten nachlesen lassen und dass die Bauern in Europa noch bis vor Kurzem zu Ehren der Kornjungfrau große Feuer anzündeten und sich dann in den Feldern paarten. Das College, dachte Dottie, war fast zu reich an Eindrücken. Sie fühlte sich vollgepfropft mit interessanten Gedanken, die sie nur ihrer Mutter, aber keinesfalls einem Mann mitteilen konnte. Der hielte einen wahrscheinlich für verrückt, würde man ihm, wenn man gerade seine Jungfräulichkeit verlieren sollte, von der Kornjungfrau erzählen. Selbst die Clique würde lachen, wenn Dottie gestand, dass sie ausgerechnet jetzt Lust auf ein ausgiebiges Gespräch mit Dick hatte, der so wahnsinnig attraktiv und unglücklich war und so viel zu geben hatte. Freilich würde die Clique nie im Leben glauben, dass sie, Dottie Renfrew, jemals hierhergekommen war, in ein Dachzimmer, das nach Bratfett roch, zu einem Mann, den sie kaum kannte, der kein Hehl aus seinen Absichten machte, der mächtig getrunken hatte und sie ganz offensichtlich nicht liebte. So krass ausgedrückt konnte sie es selbst kaum glauben, und der Teil ihres Ichs, der ein Gespräch wünschte, erhoffte wohl immer noch eine Frist, wie beim Zahnarzt, wo sie sich jedes Mal über alles Mögliche unterhielt, um den Einsatz des Bohrers noch einmal aufzuschieben. Dotties Grübchen zuckte. Was für ein verrückter Vergleich! Wenn die Clique das hören könnte!
Und dennoch, als »es« geschah, war es gar nicht so, wie die Clique oder selbst Mama es sich vorgestellt hätten, überhaupt nicht eklig oder unästhetisch, obwohl Dick betrunken war. Er war äußerst rücksichtsvoll, entkleidete sie langsam und sachlich, als nehme er ihr nur den Mantel ab. Er tat ihren Hut und Pelz in den Schrank und öffnete dann das Kleid. Der konzentrierte Ernst, den er den Druckknöpfen widmete, erinnerte sie an Papa, wenn er Mamas Partykleid zuhakte. Sorgfältig zog er ihr das Kleid über den Kopf, musterte erst das Firmenetikett und dann Dottie, ob sie auch zueinander passten, ehe er es, im gemessenen Schritt, zum Schrank trug und sorgfältig auf einen Bügel hängte. Danach faltete er jedes weitere Kleidungsstück zusammen, legte es umständlich auf den Sessel und besah sich dabei jedes Mal stirnrunzelnd das Firmenetikett. Als sie ohne Kleid dastand, wurde ihr sekundenlang etwas flau, aber er beließ ihr das Unterkleid, genau wie beim Arzt, während er ihr Schuhe und Strümpfe auszog und Büstenhalter, Hüftgürtel und Hemdhose öffnete, sodass sie, als er ihr mit größter Sorgfalt, um ihre Frisur nicht zu zerstören, das Unterkleid über den Kopf zog, schließlich, nur mit ihren Perlen bekleidet vor ihm stehend, kaum noch zitterte. Vielleicht war Dottie deshalb so tapfer, weil sie so oft zum Arzt ging oder weil Dick sich so unbeteiligt und unpersönlich verhielt, wie man es angeblich gegenüber einem Aktmodell in der Malschule tat. Er hatte sie, während er sie auszog, überhaupt nicht berührt, nur einmal versehentlich gekratzt. Dann kniff er sie leicht in jede ihrer vollen Brüste und forderte sie auf, sich zu entspannen, im selben Ton wie Dr. Perry, wenn er ihr Ischias behandelte.
Er gab ihr ein Buch mit Zeichnungen und verschwand in der Kammer, und Dottie saß im Sessel und bemühte sich, nicht zu lauschen. Das Buch auf dem Schoß, betrachtete sie eingehend das Zimmer, um mehr über Dick zu erfahren. Zimmer konnten einem eine Menge über einen Menschen erzählen. Dieses hatte ein Oberlicht und ein großes Nordfenster, für ein Männerzimmer war es ungemein ordentlich. Da war ein Zeichenbrett mit einer Arbeit, die sie brennend gern angesehen hätte, da war ein einfacher langer Tisch, der aussah wie ein Bügeltisch, an den Fenstern hingen braune Wollvorhänge, auf dem schmalen Bett lag eine braune Wolldecke. Auf der Kommode stand die gerahmte Fotografie einer blonden, auffallenden Frau mit kurzem strengen Haarschnitt, wahrscheinlich Betty, die Ehefrau. Ein Foto, vermutlich Betty im Badeanzug, sowie einige Aktzeichnungen waren mit Reißzwecken an der Wand befestigt. Dottie hatte das bedrückende Gefühl, dass sie ebenfalls Betty darstellten. Sie hatte sich bisher alle Mühe gegeben, nicht an Liebe zu denken und kühl und unbeteiligt zu bleiben, weil sie wusste, dass Dick es nicht anders haben wollte. Es war rein körperliche Anziehung, hatte sie sich immer wieder vorgesagt, im Bemühen, trotz ihres Herzklopfens kühl und beherrscht zu bleiben, aber jetzt plötzlich, als sie nicht mehr zurück konnte, war es um ihre Kaltblütigkeit geschehen und sie war eifersüchtig. Schlimmer noch, ihr kam sogar der Gedanke, Dick sei vielleicht pervers. Sie schlug das Buch auf ihrem Schoß auf und sah wieder Akte vor sich, signiert von irgendeinem modernen Künstler, von dem sie noch nie gehört hatte. Sie wusste nicht, was sie, nur eine Sekunde später, eigentlich erwartet hatte, aber Dicks Rückkehr erschien ihr im Vergleich weniger schlimm.
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