Mein Vater hatte für meine Art, mich zu den Dingen zu stellen, eine Verachtung, die durch Zuneigung genugsam gemildert war, um meinem Tun und Treiben gegenüber eine blinde Nachsicht walten zu lassen. So trug er denn keinen Anstand, mich ein kleines Gedicht in Prosa holen zu lassen, das ich früher einmal in Combray nach einem Spaziergang verfaßt hatte. Ich hatte es in einem Zustand von schwärmerischer Begeisterung geschrieben, der, wie ich wähnte, sich den Lesern mitteilen müßte. Aber Herrn von Norpois teilte er sich nicht mit; ohne ein Wort zu sagen, gab er mir das Gedicht zurück.
Schüchtern trat meine Mutter, die voller Ehrfurcht für des Vaters Beschäftigungen war, ins Zimmer und fragte, ob sie anrichten lassen dürfe. Sie fürchtete, eine Unterhaltung zu unterbrechen, in die sie nicht einzubeziehen war. In der Tat sprach der Vater zu Herrn von Norpois immer wieder von allerhand nützlichen Maßnahmen, die sie beide bei der nächsten Kommissionssitzung befürworten wollten, und zwar in dem besondern Ton, den zwei Kollegen in einer ungewohnten Umgebung haben: darin sind sie zwei Gymnasiasten ähnlich: ihre beruflichen Gewohnheiten schaffen ihnen gemeinsame Erinnerungen und sie entschuldigen sich, wenn sie vor andern, denen diese Dinge unzugänglich sind, darauf zurückkommen.
Aber die vollkommene Unabhängigkeit der Gesichtsmuskeln, zu der Herr von Norpois gelangt war, erlaubte ihm zuzuhören, ohne daß er zu verstehen schien. Mein Vater verwirrte sich schließlich: »Ich hatte gedacht, die Meinung der Kommission zu befragen ...,« sagte er nach langen Umschweifen zu Herrn von Norpois. Da kamen aus dem Gesicht des adligen Virtuosen, der bisher starr wie ein Orchestermusiker verharrt hatte, der seinen Einsatz abwartet, scharf und gleichmäßig im Vortrag, eben nur das Ende des angefangenen Satzes, doch in einem neuen Tonfall, die Worte: »– deren Stimmen Sie selbstverständlich unverzüglich zusammenbringen werden, um so mehr als die Mitglieder Ihnen als Individuen bekannt sind und sich leicht zusammenbringen lassen.« Das war an und für sich nicht gerade erstaunlich als Abschluß des Satzes; aber die vorhergegangene Unbeweglichkeit ließ es kristallen, frappant, fast spöttisch sich ablösen, wie gewisse musikalische Phrasen, die in einem Konzerte von Mozart das bisher schweigsame Klavier dem Cello einwirft.
»Nun, bist du von deiner Matinee befriedigt gewesen?« fragte mein Vater mich, während wir zu Tisch gingen: er wollte mich zur Geltung bringen und hoffte, Herr von Norpois werde meine Begeisterung zu schätzen wissen. »Er hat gerade die Berma gehört, Sie erinnern sich, wir haben darüber miteinander gesprochen«, wandte er sich dann an den Diplomaten im Tone der retrospektiven, vertraulichen Anspielung unter Fachleuten, als handle es sich um eine Sitzung der Kommission.
»Da werden Sie entzückt gewesen sein, zumal wenn Sie die Künstlerin zum erstenmal gehört haben. Ihr Herr Vater machte sich Gedanken wegen der eventuellen Rückwirkung dieses kleinen Seitensprunges auf Ihren Gesundheitszustand, denn Sie sind, glaube ich, etwas zart, ein wenig sensibel. Aber da habe ich ihn beruhigt. Die Theater sind heut nicht mehr das, was sie vor zwanzig Jahren noch gewesen sind. Sie finden leidlich angenehme Sitze vor und einen gut durchgelüfteten Raum, obgleich wir noch viel zu tun haben, um Deutschland und England einzuholen, die uns in diesem Punkte wie in manchen andern erschreckend voran sind. Ich habe Frau Berma in Phèdre nicht gesehen, mir aber sagen lassen, daß sie darin bewunderungswert sei. Und Sie? – Natürlich waren Sie hingerissen?«
Herr von Norpois, der tausendmal intelligenter war als ich, mochte sich dieser Wahrheit versichert haben, die ich dem Spiel der Berma nicht zu entnehmen verstanden hatte, er würde sie mir offenbaren; in meiner Antwort auf seine Frage wollte ich ihn bitten, mir zu sagen, worin diese Wahrheit bestände; so würde er mein Verlangen, die Schauspielerin zu sehen, noch nachträglich rechtfertigen. Ich hatte nur einen Augenblick, den mußte ich nutzen und meine Fragestellung auf das Wesentliche richten. Aber was war das Wesentliche? Ich wandte meine ganze Aufmerksamkeit auf die verworrenen Eindrücke, die ich davongetragen, und dachte nicht daran, vor Herrn von Norpois mich in ein vorteilhaftes Licht zu setzen, sondern die gewünschte Wahrheit aus ihm zu ziehen; ich versuchte nicht, die mir fehlenden Worte durch fertigübernommene Wendungen zu ersetzen; ich stotterte, und schließlich, um ihn anzureizen, das Wunderbare der Berma zu erklären, gestand ich ihm, daß ich enttäuscht gewesen sei.
»Was sagst du da?« rief mein Vater, und es verdroß ihn der Gedanke, das Bekenntnis meiner Verständnislosigkeit könne auf Herrn von Norpois einen schlechten Eindruck machen. »Wie kannst du nur behaupten, daß du nichts davon gehabt hast? Die Großmutter hat uns erzählt, daß du kein Wort, das die Berma aussprach, verloren hast, die Augen seien dir aus dem Kopf getreten, so wie du sei kein Mensch im Saal gewesen.«
»Gewiß, ich paßte auf, so gut ich konnte, um herauszubekommen, was so Bemerkenswertes an ihr sei. Sicher ist sie sehr gut...»
»Wenn sie sehr gut ist, was brauchst du noch mehr?«
Herr von Norpois wandte sich geflissentlich an meine Mutter, um sie in die Unterhaltung einzubeziehen und seine Pflicht der Höflichkeit gewissenhaft der Frau des Hauses gegenüber zu erfüllen: »Einer der Umstände, die sicherlich zum Erfolg der Frau Berma beitragen, ist der vollendete Geschmack, mit dem sie ihre Rollen auswählt und der ihr stets spontanen vollwertigen Beifall sichert. Nur selten spielt sie Mittelmäßiges. Sie sehen, sie hat die Rolle der Phèdre in Angriff genommen. Dieser Geschmack zeigt sich in ihren Toiletten wie in ihrem Spiel. Trotzdem sie häufig einträgliche Tourneen durch England und Amerika machte, hat doch nie das Vulgäre – ich will nicht sagen, von John Bull, das wäre ungerecht zum mindesten gegen das England der viktorianischen Ära – aber von Onkel Sam auf sie abgefärbt. Niemals zu auffallende Farben, nie einen zu heftigen Schrei. Dann diese wunderbare Stimme, die ihr so gut dient, auf der sie hinreißend zu spielen weiß, ich fühle mich fast versucht zu sagen, wie auf einem Musikinstrument!«
Mein Interesse am Spiel der Berma hatte beständig zugenommen, seit die Vorstellung zu Ende war. Es litt nicht mehr unter dem Druck und den Schranken der Wirklichkeit. Aber ich fühlte das Bedürfnis, Erklärungen für dieses Interesse zu finden; während die Berma spielte, war es mit gleicher Heftigkeit auf alles, was sie – in der Unteilbarkeit des Wirklichen – meinen Augen und Ohren zugleich bot, gerichtet gewesen; da konnte es nicht trennen und unterscheiden; jetzt war es glücklich, in Herrn von Norpois' Lobreden auf die Schlichtheit und den guten Geschmack der Künstlerin, eine vernünftige Begründung seiner selbst zu entdecken; es absorbierte gierig diese Lobreden, bemächtigte sich ihrer, wie der Optimismus eines Betrunkenen der Taten seines Nächsten sich bemächtigt, in denen er einen Grund zur Rührung findet. »Ja, wahrhaftig,« sagte ich mir, »welch schöne Stimme ohne alles Schreiende und die schlichten Kostüme und wie einsichtig, die Rolle der Phèdre zu wählen. Nein, ich war nicht enttäuscht!«
Der kalte Rinderbraten mit Karotten erschien, von dem Michelangelo unserer Küche auf enorme Geleekristalle gelagert, die durchsichtigen Quarzblöcken glichen.
»Sie haben einen Küchenchef allerersten Ranges, gnädige Frau«, sagte Herr von Norpois. »Und das will etwas besagen. Ich habe im Auslande ein Haus ausmachen müssen und weiß, wie schwer es oft ist, einen perfekten Speisemeister zu finden. Es ist ein wahres Liebesmahl, wozu Sie uns da entboten haben.«
In der Tat hatte Françoise, aufgestachelt von dem Ehrgeiz, für einen Gast von Rang eine Mahlzeit zustande zu bringen, die Schwierigkeiten bot, die ihrer würdig waren, sich solche Mühe gegeben, wie sie für uns allein nicht mehr aufwandte, und dabei ihre unvergleichliche Manier von Combray wiedergefunden.
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