Er bot mir keinerlei Empfehlungen an die Revue des Deux-Mondes an, stellte aber eine Reihe Fragen über mein Leben, meine Studien und meine Neigungen, von denen ich zum erstenmal in einer Art sprechen hörte, als könne man ihnen vernünftigerweise nachgehen, während ich bisher geglaubt hatte, es sei Pflicht, ihnen zu widerstreben. Da diese Neigungen auf seiten der Literatur lagen, suchte er mich nicht von dieser abzubringen; vielmehr sprach er mit höflicher Achtung von ihr wie von einer verehrungswürdigen charmanten Person aus erlesenem Kreise, der man in Rom oder Dresden das beste Andenken bewahrt hat und die man bedauerlicherweise durch den Zwang der Verhältnisse so selten wiedertrifft. Mit einem fast schlüpfrigen Lächeln neidete er mir die angenehmen Stunden, die sie mir Glücklicherem und Freierem verschaffe. Aber die Wendungen, deren er sich bediente, zeigten mir die Literatur sehr verschieden von dem Bilde, das ich mir in Combray von ihr gemacht hatte; und ich sah ein, daß ich doppelt recht gehabt hatte, ihr zu entsagen. Bisher war mir nur zum Bewußtsein gekommen, daß ich keine Begabung zum Schreiben habe, jetzt nahm mir Herr von Norpois auch das Verlangen danach. Ich wollte ihm ausdrücken, was ich mir erträumt hatte; in meiner zitternden Erregung hätte ich mir Skrupel gemacht, wenn meine Worte nicht das denkbar aufrichtigste Äquivalent dessen, was ich fühlte und bisher noch nie zu formulieren versucht hatte, gewesen wären, und so wurden diese Worte natürlich ganz unklar. Vielleicht aus Berufsgewohnheit, vielleicht kraft der jedem hochgestellten Mann eigenen Ruhe (denn, wenn man ihn um Rat fragt, ist er sicher, den Gang des Gespräches zu beherrschen, und läßt den Unterredner sich aufregen, abmühen und nach Herzenslust schuften), vielleicht auch, um den Charakter seines Kopfes zur Geltung zu bringen (der, nach seiner Meinung trotz der großen »Favoris« griechisch war), pflegte Herr von Norpois, während man ihm etwas darlegte, eine absolut unbewegliche Miene zu bewahren: man sprach wie zu einer tauben antiken Büste in einer Glyptothek. Plötzlich erklang dann wie der fallende Hammer des Auktionators oder wie ein delphisches Orakel die Stimme des Botschafters, und seine Antwort war um so eindrucksvoller, als nichts in seiner Miene hatte vermuten lassen, was für einen Eindruck er von dem andern empfangen habe, noch was für eine Meinung er wohl äußern werde.
Mit einmal sagte er, als sei die Sache entschieden, nachdem er mich angesichts der unbewegten Augen, die keinen Augenblick von mir abließen, lange hatte schwatzen lassen: »Gerade ist mir der Sohn eines meiner Freunde gegenwärtig, dem es ›mutatis mutandis‹ geht wie Ihnen« (und er nahm, um von unsern gemeinsamen Anlagen zu sprechen, einen begütigenden Ton an, als handle es sich nicht um Anlagen zur Literatur, sondern zum Rheumatismus, und als wolle er mir zeigen, daß man nicht daran stirbt). »Dieser junge Mann hat es vorgezogen, den Quai d'Orsay zu verlassen, wo ihm doch der Weg durch den Vater geebnet war, und ohne sich um das Gerede der Leute zu kümmern, hat er sich angeschickt zu produzieren. Sicherlich hat er keinen Anlaß, es zu bereuen. Er hat vor zwei Jahren – er ist, nebenbei bemerkt, natürlich bedeutend älter als Sie – ein Werk veröffentlicht, das sich mit dem Gefühl des Unendlichen vom westlichen Ufer des Viktoria-Nyassa-Sees befaßt, und dies Jahr ein weniger wichtiges, aber mit hurtiger, bisweilen sogar ziemlich scharfer Feder geschriebenes Büchlein über das Repetiergewehr in der bulgarischen Armee, Arbeiten, die ihm bereits einen besondern Platz gesichert haben. Er hat schon eine hübsche Strecke zurückgelegt und ist nicht der Mann, auf halbem Wege stehen zu bleiben. Wie ich weiß, hat man, ohne den Gedanken einer Kandidatur ins Auge zu fassen, in der Académie des Sciences Morales im Laufe des Gesprächs seinen Namen zwei-, dreimal fallen lassen, und zwar in einer durchaus nicht ungünstigen Art. Kurzum, wenn man auch noch nicht behaupten kann, daß er bereits den Gipfel des Parnaß erklommen habe, er hat mit kühnem Angriff eine recht hübsche Stellung erobert, und der Erfolg, der denn doch nicht immer nur den Stürmern, Wirrköpfen und Wichtigtuern, deren Wesen eben meist nur Getu ist, zufällt, der Erfolg hat seine Mühe gelohnt.«
Meinem Vater, der mich nun schon in einigen Jahren Akademiker werden sah, war deutlich eine Genugtuung anzumerken, die Herr von Norpois auf die Spitze trieb, indem er mir nach kurzem Zögern und in sichtlicher Berechnung der Folgen, die sein Schritt haben könnte, seine Karte reichte und sagte: »Besuchen Sie ihn doch mit meiner Empfehlung, er wird Ihnen nützliche Ratschläge geben können.« Diese Worte verursachten mir eine so peinliche Erregung wie etwa die Mitteilung, ich sollte mich morgen als Schiffsjunge auf einem Segler einschiffen.
Meine Tante Leonie hatte mir zusammen mit vielen lästigen Gegenständen und Möbeln fast ihr ganzes flüssiges Vermögen vererbt und so nach ihrem Tode eine Zuneigung offenbart, die ich zu ihren Lebzeiten durchaus nicht vermutete. Mein Vater, der dies Vermögen bis zu meiner Mündigkeit zu verwalten hatte, befragte Herrn von Norpois über die Anlage einiger Werte. Der Botschafter riet zu schwachverzinsten Papieren, die er für besonders solide erachtete, namentlich zu Englischen Konsols und vierprozentigen Russen. »Mit diesen erstklassigen Werten«, sagte er, »sind Sie, wenn der Zinsfuß auch nicht so hoch ist, wenigstens sicher, Ihr Kapital nie gefährdet zu sehen.« Danach berichtete ihm mein Vater im großen ganzen, was er für den Rest des Geldes gekauft habe. Auf Herrn von Norpois' Zügen erschien ein kaum merkliches Glückwunschlächeln: wie alle Kapitalisten sah er in einem Vermögen etwas immer Beneidenswertes, fand es aber zartfühlend, sein Kompliment zu solch einem Besitz nur durch eine kaum eingestandene Gebärde des Verständnisses auszudrücken; da er selbst kolossal reich war, hielt er es andererseits für geschmackvoll, mit einem immerhin behaglich-munteren Rückblick auf die eigenen höheren Einkünfte die geringeren der anderen nicht unbeträchtlich zu schätzen. Er nahm keinen Anstand, meinem Vater zu der »wohlabgewogenen, überlegenen Sicherheit«, mit der er sein Portefeuille »komponiert« habe, zu gratulieren. Es war, als schriebe er den Beziehungen der Börsenpapiere zueinander und auch den einzelnen Papieren eine Art ästhetischen Rang zu. Über ein ziemlich neues unbekanntes, das mein Vater erwähnte, äußerte Herr von Norpois, ähnlich den Leuten, die ein Buch, das wir allein zu kennen glauben, auch gelesen haben: »Oh doch, ich habe mich eine Zeitlang damit unterhalten, es auf dem Kurszettel zu verfolgen, es war interessant«, und hatte dabei das retrospektiv gefesselte Lächeln eines Abonnenten, der den letzten Roman einer Revue in Fortsetzungen gelesen hat. »Ich will Ihnen nicht davon abraten, sich bei der bevorstehenden Lancierung an der Subskription zu beteiligen. Das Papier hat etwas Anziehendes, die Anteilscheine werden Ihnen zu verführerischen Preisen angeboten.« Als auf bestimmte ältere Effekten die Rede kam, an deren Namen mein Vater sich nicht genau erinnerte, da sie leicht mit denen ähnlicher Aktien zu verwechseln waren, öffnete er eine Schublade und zeigte die Papiere selbst dem Botschafter. Ihr Anblick entzückte mich: sie waren verziert mit Kathedralenpfeilern und allegorischen Figuren, wie gewisse alte Publikationen aus der Zeit der Romantik, die ich früher durchblättert hatte. Alles, was der gleichen Epoche entstammt, sieht sich ähnlich; den Künstlern, die Dichtungen einer Zeit illustrieren, geben auch die zeitgenössischen Finanzgesellschaften Aufträge: und nichts erinnert mehr an gewisse Lieferungen von Notre-Dame de Paris und von Gérard de Nervals Werken, wie ich sie im Schaufenster des Krämers von Combray gesehen, als, in ihrer rechtwinkligem, beblümten, von Flußgottheiten gestützten Einfassung, eine Aktie der Gesellschaft der Wasserwerke.
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