»Was haben Sie in dieser Woche gelesen, seit wir uns zuletzt gesehen haben?« fragte er auch jetzt. »Sagen Sie es, ich bitte Sie.«
»Ich habe Pissemskij gelesen.«
»Was denn?«
»›Tausend Seelen‹,« antwortete das Kätzchen. »Was für einen komischen Namen hatte dieser Pissemskij: Alerej Feofilaktowitsch!«
»Wo wollen Sie denn hin?« rief Starzew entsetzt, als sie plötzlich aufsprang und fortlief. »Ich habe mit Ihnen zu reden, ich muß mich aussprechen ... Bleiben Sie wenigstens fünf Minuten mit mir! Ich beschwöre Sie!«
Sie blieb stehen, als wollte sie ihm etwas sagen, drückte ihm ungeschickt einen Zettel in die Hand, lief ins Haus und setzte sich sofort ans Klavier.
»Kommen Sie heute um elf Uhr abends,« las Starzew, »auf den Friedhof zum Grabmal Demetti.«
– Das ist aber gar nicht klug, – sagte er sich, als er sich von seinem Erstaunen erholt hatte. – Warum auf den Friedhof? –
Es war ja klar: das Kätzchen verulkte ihn einfach. Wer wird einen zu einem Stelldichein in der Nacht, weit draußen vor der Stadt, auf dem Friedhofe laden, wenn man es so leicht auf der Straße oder im Stadtgarten machen kann? Und paßt es überhaupt für ihn, den Landarzt, den klugen und soliden Mann, so ein Mädel anzuschmachten, solche Zettelchen zu bekommen, sich auf Friedhöfen herumzutreiben und Dummheiten zu machen, über die heutzutage selbst die Gymnasiasten lachen? Wohin soll dieser Roman führen? Was werden die Kollegen sagen, wenn sie es erfahren? Das alles dachte sich Starzew, als er im Klub zwischen den Kartentischen herumirrte; um halb elf faßte er aber plötzlich den Entschluß und fuhr zum Friedhof.
Jetzt hatte er schon ein eigenes Paar Pferde und den Kutscher Pantelejmon, der eine Samtweste trug. Der Mond schien hell. Alles war still, die Luft war warm, doch von einer eigentümlichen herbstlichen Wärme. In der Vorstadt, in der Nähe des Schlachthauses heulten die Hunde. Starzew ließ seinen Wagen in einer der Gassen an der Stadtgrenze stehen und ging zu Fuß zum Friedhof. – Jeder Mensch hat seine Eigenheiten, – sagte er sich. – Auch das Kätzchen ist so sonderbar, wer weiß, vielleicht ist es ihr Ernst, und sie wird kommen. – Er gab sich dieser schwachen, eitlen Hoffnung hin, und sie berauschte ihn.
Als er eine halbe Werst durch das Feld gegangen war, sah er den Friedhof in der Ferne wie einen dunklen Streifen, wie einen Wald oder einen groben Garten liegen. Bald unterschied er auch schon die weiße Mauer und das Tor ... Beim Mondscheine konnte man die Inschrift über dem Eingang lesen: »Es kommt die Stunde, und ...« Starzew trat durch die Nebenpforte ein, und das erste, was er sah, waren die weißen Kreuze und Grabsteine zu beiden Seiten einer breiten Allee und die schwarzen Schatten, die sie und die Pappeln warfen; so weit das Auge reichte, war nur Weißes und Schwarzes zu sehen, und die schlafenden Bäume ließen ihre Zweige über das Weiße herabhängen. Hier schien es heller als draußen im Felde. Die Ahornblätter, die an Tatzen erinnerten, hoben sich scharf vom gelben Sande und den Grabplatten ab, und die Inschriften auf den Grabmälern waren deutlich zu lesen. Im ersten Augenblick war Starzew ganz bestürzt vom Anblick, der sich ihm jetzt zum erstenmal bot und den er wohl nie wieder erleben würde: eine Welt, die keiner anderen glich, eine Welt, wo das Mondlicht so schön und mild war, als ob hier seine Wiege stünde, eine Welt, wo es kein Leben gab, wo aber in jeder dunklen Pappel, in jedem Grabstein ein Geheimnis wohnte, das ein stilles, schönes, ewiges Leben verhieß. Die Grabsteine und die welken Blumen atmeten zugleich mit dem Geruch des Herbstlaubes eine Stimmung von Allverzeihung, Trauer und Ruhe.
Stille ringsum; in tiefer Demut blickten die Sterne vom Himmel herab, und die Schritte Starzews hallten unpassend laut. Und erst als die Kirchenuhr zu schlagen anfing und er sich vorstellte, wie er hier tot, für alle Ewigkeit eingescharrt liegt, kam es ihm vor, als ob ihn jemand anstarrte, und er dachte eine Weile, daß es nicht die Ruhe und nicht die Stille sei, sondern die dumpfe Trauer des Nichtseins, eine unterdrückte Verzweiflung ....
Das Grabmal Demetti war eine von einem Engel gekrönte Kapelle; in S. hatte sich einmal auf der Durchreise eine italienische Operntruppe aufgehalten; eine der Sängerinnen war hier gestorben und ruhte unter dieser Kapelle. In der ganzen Stadt erinnerte sich ihrer kaum ein Mensch, aber das Lämpchen über dem Eingang glitzerte im Mondlichte und schien zu brennen.
Niemand war da. Wer wird auch zur Mitternachtsstunde herkommen? Aber Starzew wartete. Das Mondlicht erhitzte gleichsam seine Leidenschaft, und er wartete mit Sehnsucht und träumte von Umarmungen und Küssen. So saß er etwa eine halbe Stunde am Grabmal, ging dann, den Hut in der Hand, einmal durch die Seitenalleen und dachte an die vielen Frauen und Mädchen, die hier in diesen Gräbern ruhen, die schön und bezaubernd waren, die liebten und in Liebesnächten vor Leidenschaften verbrannten. Wie grausam macht sich doch Mutter Natur über den Menschen lustig, und wie kränkend ist es, dies zu fühlen! So dachte sich Starzew und zugleich wollte er aufschreien, daß er es nicht wolle, daß er die Liebe um jeden Preis erwarte; was vor ihm schimmerte, war kein Marmor mehr, es waren schöne Körper, er sah die Formen, die sich verschämt im Schatten der Bäume versteckten, er fühlte ihre Wärme, und dieses Gefühl wurde zu einer unerträglichen Qual ....
Plötzlich fiel der Vorhang: der Mond verschwand hinter den Wolken, und alles war auf einmal dunkel. Starzew fand mit Mühe den Ausgang, – es war schon so dunkel wie in einer richtigen Herbstnacht, – und suchte dann eine halbe Stunde die Gasse, wo er seinen Wagen stehen gelassen hatte.
»Ich bin so müde, daß ich mich kaum auf den Füßen halte,« sagte er zu Pantelejmon.
Und als er sich mit einem Wohlgefühl in den Wagen setzte, dachte er sich:
– Ach, es ist wirklich nicht gut, wenn ich noch mehr zunehme! –
Inhaltsverzeichnis
Am nächsten Abend fuhr er zu den Turkins, um einen offiziellen Antrag zu machen. Er kam aber ungelegen: Jekaterina Iwanowna war mit dem Friseur in ihrem Zimmer, sie wollte in den Klub zu einem Tanzabend.
Er mußte lange im Eßzimmer sitzen und Tee trinken. Als Iwan Petrowitsch merkte, daß der Gast nachdenklich war und sich langweilte, holte er aus der Westentasche einen Zettel und las einen sehr drolligen Bericht eines deutschen, der russischen Sprache nicht mächtigen, Gutsverwalters vor.
– Sie werden wohl eine recht anständige Mitgift geben, – dachte sich Starzew, kaum zuhörend.
Nach der schlaflosen Nacht fühlte er sich so, als ob er etwas Süßes und Einschläferndes getrunken hätte. Alle seine Empfindungen waren unklar und verworren, aber es war ihm doch freudig und warm ums Herz, obwohl ein kaltes, schweres Stückchen seines Gehirns ihm zuredete:
– Halt ein, solange es nicht zu spät ist! Ist sie denn die richtige Frau für dich? Sie ist launisch, verzogen, ist gewohnt, bis zwei Uhr zu schlafen, du aber bist der Sohn eines Küsters und ein Landarzt ....
– Was macht denn das? – entgegnete er darauf. – Von mir aus! –
– Außerdem, wenn du sie heiratest, – fuhr das Stückchen Gehirn fort, – werden ihre Eltern dich zwingen, deine Stellung auf dem Lande aufzugeben und in die Stadt zu ziehen. –
– Was macht das? – sagte er sich. – Warum soll ich auch nicht in der Stadt wohnen? Sie werden mir eine Mitgift geben, und wir werden uns schön einrichten ... –
Endlich erschien Jekaterina Iwanowna in einem ausgeschnittenen Ballkleid mit einem Dekolleté, hübsch, frisch, blühend, und Starzew geriet in solches Entzücken, daß er kein Wort hervorbringen konnte und sie nur anstarrte und lachte.
Sie begann sich zu verabschieden. Da er hier sonst nichts zu suchen hatte, erhob er sich auch und erklärte, daß er heim müsse: seine Patienten erwarteten ihn.
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