d) Rechtzeitige Existenz eines Betriebsrats
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Weitere Voraussetzung für die Anwendbarkeit des § 111 BetrVG ist natürlich die Existenz eines Betriebsrats bzw. bei originärer Zuständigkeit des Gesamtbetriebsrats nach § 50 Abs. 1 Satz 1 BetrVG von diesem. Das klingt auf den ersten Blick banal, muss jedoch genauer betrachtet werden, wenn die Betriebsänderung in die Gründungsphase des Betriebsrats fällt.
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Nach noch verbreiteter Auffassung hat die Konstituierung des Betriebsrats erfolgt zu sein, bevor der abschließende Entschluss zur Betriebsänderung durch den Arbeitgeber gefasst wurde.18 In einem Urteil vom 18.11.200319 stellt das Bundesarbeitsgericht (BAG) trotz Bezug auf die vorgenannte Rechtsprechung nur mehr auf den Beginn der Betriebsänderung ab. Das wäre zumindest schon einmal handhabbarer, als auf einen Entschluss abzustellen, der für Außenstehende nie zeitlich prüfbar ist. Beiden Varianten ist jedoch entgegenzuhalten, dass das, sofern dies mit Vertrauensschutz für den Arbeitgeber begründet wird, argumentativ nicht Bestand haben kann.20 Das Gesetz will keine betriebsratslosen Betriebe und es ist jedem Arbeitgeber bekannt, dass er ab einer bestimmten Größe mit Mitbestimmungsrechten rechnen muss. Zumindest ab Beginn von Wahlvorbereitungen jedoch ist ein eventuelles Vertrauen auf Betriebsratslosigkeit nicht mehr zu rechtfertigen. Zudem geht die bisher herrschende Auffassung von einem zu statischen Begriff von Planung und Entscheidung aus. Umstrukturierungen sind heute prozesshaft angelegt. Es gibt in der Regel nicht mehr den einen Beschluss mit dem fertigen Plan. Zu Recht bejahte das LAG Köln daher zumindest den möglichen Abschluss eines Sozialplans auch nach Beginn der Betriebsänderung.21
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In den allermeisten Fällen dürften die vorgenannten Voraussetzungen schnell prüfbar und zu bejahen sein. Wie bereits oben erwähnt, beinhaltet die Bejahung der Grundvoraussetzungen des § 111 BetrVG noch keine Aussage zu der Frage, ob dann wirklich eine interessenausgleichs- und sozialplanpflichtige Betriebsänderung vorliegt und wer in welchem Ausmaß davon betroffen bzw. begünstigt ist.
2. Begriff der Betriebsänderung im Sinne des § 111 BetrVG
a) Allgemeine Vorbemerkung – Verhältnis von Satz 1 zu Satz 3
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Wie bereits zum Begriff des Betriebs enthält das Gesetz auch keine Definition des Begriffs der Betriebsänderung. § 111 Satz 1 BetrVG spricht zunächst lediglich von geplanten „Betriebsänderungen, die wesentliche Nachteile für die Belegschaft oder erhebliche Teile der Belegschaft zur Folge haben können“. In Satz 3 folgt dann ein Katalog von Maßnahmen, die „als Betriebsänderungen im Sinne des S. 1 gelten“.
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Wichtig ist zunächst, das Verhältnis von Satz 1 zu Satz 3 zu bestimmen. Die zwischenzeitlich herrschende Auffassung erkennt richtigerweise an, dass, wenn es Katalogtatbeständegibt, welche als Betriebsänderungen im Sinne des allgemeinen Betriebsänderungsbegriffsgelten, diese Katalogtatbestände dann auch nicht abschließend sein können.22
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Das BAG spricht in einem Urteil vom 9.11.2010 von einer „beispielhaften“ Aufstellung von Tatbeständen, die als Betriebsänderung im Sinne des Satzes 1 gelten. Liegt einer der Tatbestände des § 111 Satz 3 BetrVG vor, sei auch nicht mehr zu prüfen, ob nachteilige Folgen für die Belegschaft oder erhebliche Teile der Belegschaft zu erwarten sind. Diese werden in den dort genannten Fällen fingiert.23 Fingiert bedeutet, dass eine unwiderlegliche Vermutung der möglichen wesentlichen Nachteile besteht, selbst wenn die konkrete Betriebsänderung gar keine wesentlichen Nachteile für die Belegschaft oder wesentliche Teile davon erwarten lässt.24
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Das bedeutet im Umkehrschluss auch, dass es neben den Beispielen in Satz 3 noch mehr geben muss, nämlich eben allgemeine Betriebsänderungen nach Satz 1, die unter keinen der Katalogtatbestände fallen. Bei diesen ist dann aber die Frage zu beantworten, ob sie wesentliche Nachteile für die Belegschaft oder erhebliche Teile der Belegschaft zur Folge haben können.25 Das BAG hat lange Zeit die Frage offen gelassen, ob es mehr als die Fälle der Katalogtatbestände gibt, weil es im Konkreten nicht entscheidungserheblich war. Im Beschluss vom 22.3.2016 prüft es dann aber ausdrücklich die allgemeine Betriebsänderung nach vorherigem Verneinen des Vorliegens eines Katalogtatbestands.26
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Für die Prüfungsabfolge macht es angesichts des Vorgenannten Sinn, zunächst die Beispielsfälle bzw. Katalogtatbestände in Satz 3 zu prüfen und erst, wenn kein solcher bejaht werden kann, noch den allgemeinen Betriebsänderungsbegriff des Satz 1.
b) Katalogtatbestände des § 111 Satz 3 BetrVG
aa) Einschränkung und Stilllegung des ganzen Betriebs oder von wesentlichen Betriebsteilen, § 111 Abs. 1 Satz 3 Ziff. 1 BetrVG
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Die Katalogtatbestände der Ziff. 1 sind in vier Sachverhaltskonstellationen zu unterteilen:
– Betriebsstilllegung,
– Einschränkung des Betriebs,
– Stilllegung eines wesentlichen Betriebsteils,
– Einschränkung eines wesentlichen Betriebsteils.
bb) Betriebsstilllegung
(1) Auflösung der Betriebsorganisation
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In den meisten Fällen wird man relativ schnell und unstrittig die Frage, ob eine Betriebsstilllegung vorliegt, klären können, da Alltagswahrnehmung und juristische Bewertung sehr nah beieinander liegen. In Randbereichen gibt es jedoch durchaus verschiedene knifflige Fragen zu beantworten. Der für Betriebsverfassungsrecht zuständige Erste Senat des BAG fordert für eine Betriebsstilllegung die „Aufgabe des Betriebszwecks unter gleichzeitiger Auflösung der Betriebsorganisation für unbestimmte, nicht nur vorübergehende Zeit“.27 Der für Kündigungsrecht zuständige Zweite Senat sieht unter Bezug auf ältere Rechtsprechung und Stimmen in der Literatur zum Kündigungsschutz eine Betriebsstilllegung auch dann als gegeben, „wenn die Auflösung der Betriebs- und Produktionsgemeinschaft unter Aufgabe des Betriebszwecks zwar nicht von unbestimmter Dauer ist, sondern für eine im Voraus festgelegte, aber relativ lange Zeit erfolgt“.28 Diese Interpretation überdehnt den Begriff der Stilllegung. Bereits der kurze Wortlaut der Definition des Ersten Senats des BAG zeigt, dass hier in der Praxis Abgrenzungsprobleme auftreten können.
(2) Stilllegung, nicht nur Unterbrechung
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Betriebsunterbrechungen aufgrund Witterung am Bau sind keine Stilllegungen.29 Auch Betriebsunterbrechungen, die nur für ein vorübergehendes Stadium beabsichtigt sind, sind keine Stilllegung.30 Das ist insb. kündigungsschutzrechtlich relevant, da die vermeintliche Stilllegung des ganzen Betriebs die Argumentation für den Arbeitgeber signifikant erleichtert. Andererseits bleibt es bei einer Stilllegung selbst dann, wenn über den Stilllegungszeitpunkt hinaus Abwicklungsarbeiten erfolgen oder besonders geschützte Arbeitsverhältnisse noch fortbestehen.31 Eine vorübergehende Auflösung der Betriebsorganisation mit ungewissem Fortführungszeitpunkt soll aber genügen.32 Hier wird es, wie so oft, auf die Gesamtumstände ankommen.
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Die Frage der Dauer einer Betriebsunterbrechung wird nach hiesiger Auffassung dann relevant, wenn eine behauptete oder sogar beabsichtigte Stilllegung keinen oder nur kurzen Bestand hat. Eine nur kurze Unterbrechung ist dann Indiz dafür, dass eben noch keine endgültige Stilllegungsabsicht bestand, da man ja offensichtlich weitere Beschäftigungsmöglichkeiten bzw. Aufträge im Blick hatte Aber selbst bei zugestandener ursprünglicher Stilllegungsabsicht kann die relativ kurze Dauer der Unterbrechung gegen die Anwendung der Regelungen zur Stilllegung sprechen.
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