Der Mönch blickte sie erwartungsvoll an. In seinen dunklen Augen sah sie ihr nahes Ende.
Es überraschte sie, dass es so enden sollte. Mit diesem Symbol aus ihrer Kindheit. Einer alten Legende, an der sie ihr halbes Leben nicht mehr gedacht hatte.
»Hab keine Angst!«, sagte sie zu dem Mädchen.
Jeder sieht nur das, was er kennt … In ihrem langen Leben hatte sie Leben entstehen und Leben enden sehen. Im großen Ganzen der Schöpfung spielte es keine Rolle. Aber das menschliche Herz sehnte sich nach Bedeutung, nach etwas, das blieb.
»Kann ich hierbleiben?«, fragte sie den Mönch. »Wenn alles vorbei ist …«
Er neigte seinen kahlen Kopf.
Die Vorstellung, für ewig unter diesem Sternenhimmel zu liegen, erleichterte sie.
Langsam beugte sie sich nach vorne und hauchte dem Mädchen einen Kuss auf die Stirn. Ihre Finger fanden die Rose.
»Zu den Sternen, mein Kind …!«
Sie nahm die Rose von den Lippen des Mädchens.
Aline keuchte auf, schnappte mit weitaufgerissenem Mund nach Luft. Der Kapitän hielt die Rose in beiden Händen. Sie brannte auf der Haut, als wäre sie ein Eiszapfen. Im nächsten Augenblick kam der Boden auf sie zu.
Langsam atmete der Kapitän aus. Ihre alten Augen richteten sich zu der hohen Decke, über der sich das letzte Sternenbild ihrer sterblichen Existenz befand, weit aufgespannt in all seiner Pracht, in all seiner Dauer, die in menschlichen Maßstäben nicht zu messen war. Jemand beugte sich über sie und das Gesicht Alines sah auf sie herab. Sie hatte Tränen in den Augen.
Der Torheit der Menschen, dachte die alte Frau ohne Trauer, da aller Schmerz von ihr abfiel.
Das Licht nahm um sie herum ab, und sie hatte Mühe, Aline zu erkennen. Ihr Kopf fühlte sich so lebendig wie nie zuvor, aber ihr Körper stellte nach und nach seine Funktionen ein. Wie ein Baum, dachte sie, der kurz bevor er stirbt noch einmal austreibt.
»Ich wollte doch nur meine Eltern wiedersehen«, flüsterte Aline.
Die alte Frau wollte etwas sagen, aber ihre Lippen waren wie versiegelt. Die älteste Vereinbarung von allen. Ein Ende für einen Anfang.
Mühsam öffnete sie ihre Hände, aber sie waren leer.
Langsam fuhr sie mit den Fingern durch das Gras und pflückte ein Gänseblümchen ab, die einfachste unter den Blumen des Waldes, aber wie ein ganzes Universum voller Wunder in der Hand.
Von unserem schmalen Balkon aus wirkt unsere neue Stadt wie ein Labyrinth zum Ausmalen. Solche, die auf den Rückseiten von Müslischachteln abgedruckt sind. Oder auf den Papierunterlagen von Fast-Food-Läden. Doch würde ich einen Stift nehmen und einen Weg durch den Irrgarten zeichnen, würde ich immer nur in Sackgassen enden. Da müssen Abbiegungen und Auswege sein, die ich in der vagen Beleuchtung einfach nicht sehen kann. Das bisschen Licht, das einen Weg durch die dichten, staubfarbenen Wolken findet, bleibt irgendwo in den obersten Stockwerken der hohen Gebäude hängen. Hier unten bleibt uns dann nichts als das gelbe Schimmern der Straßenlaternen und das blaue Flickern der Computerbildschirme.
Hinter mir dringen lauter werdende Stimmen durch die dünne Balkontür. Sie streiten wieder. Über Dinge, die sie nicht mehr ändern können. Die sie niemals hätten ändern können. Die sich niemals ändern werden. Sie sind wie eingesperrte Wildkatzen, immerzu laufen sie auf und ab in ihrem kleinen, engen Käfig aus Plastik, bis sie die Geduld verlieren und aufeinander los gehen. Dann werden ihre Worte zu krallenbesetzten Pranken, die verletzen wollen. Ich habe schnell gelernt, nicht zwischen ihre Fronten zu geraten. So wird man nicht verletzt, wenn Wut und Verzweiflung aus Eltern Wildkatzen machen. Aber Wildkatzen, hat Mutter schon so oft gesagt, sind ausgestorbene Wesen. Sie weiß, dass Gleiches in unserer neuen Stadt schon bald auch für Eltern gilt.
Ich kenne einen Trick, um aus dem Kreuzfeuer zu fliehen. Ich muss mich nur über das Geländer schwingen, die Füße ins Leere baumeln lassen, bis sie den unter uns liegenden Balkon finden und dann loslassen. Nach vier Balkonen erreicht man ein Flachdach, von dem aus eine Feuerleiter bis hinab in eine enge Gasse auf der Straßenebene führt. Die Plastikwände der Wohnblöcke sind in der Gasse so nah, dass ich die Arme nicht ausstrecken kann. Schaut man von hier nach oben, sieht man nur Wände, Brücken, Kanten und Ecken. Alles aus dem gleichen, farblosen Plastik gegossen, dass sie aus den vergifteten Meeren gefischt und mit hierher gebracht haben. Irgendwo dazwischen erhascht man mit viel Glück einen Fetzen Himmel. Orange, beige, staubig, blass, aber gefüllt mit einer Idee von weit entferntem Sonnenlicht. Wenn man das Gesicht in Richtung so eines Fetzens streckt und die Augen schließt, könnte man beinah glauben, so etwas wie Wärme auf seiner Haut zu spüren. Aber viel davon dringt nicht durch die Plastikglocke, die unsere neue Stadt umgibt. In den Pflichtlektüren unserer neuen Schule habe ich gelesen, dass die Glocke uns vor Staub, Wind und Strahlung schützt. Und dass sie derzeit immer noch daran arbeiten, dass die kleinen Partikel im Material der Glocke einen strahlend blauen Himmel simulieren. Vielleicht, wenn es soweit ist, könnten sie dann auch ein bisschen Wärme vortäuschen.
Ich verlasse die Gasse und betrete die Straße. Sie ist nicht viel breiter, nur ein Gehweg. Die wirklich breiten Straßen, auf denen die Tube verkehrt, sind die einzigen Schneisen, die sich durch die dichte Stadt fräsen. Alles andere sind nur Risse. Ich lasse meinen Blick wieder nach oben wandern, versuche von hier aus den Balkon zu erkennen, von dem ich gerade geflohen bin, doch es ist unmöglich, den richtigen zwischen den Abertausenden von baugleichen Balkonen auszumachen. Alle haben das gleiche schwarze Plastikgeländer, den gleichen halben Meter bis zur Tür aus durchsichtigem Hartplastik und das gleiche viereckige Fenster daneben. Reihen über Reihen über Reihen davon schichten sich aufeinander, nebeneinander, ineinander. In irgendeiner dieser engen Plastikschachteln streiten meine Eltern und bemerken nicht, wie ich verschwinde. Wie ich immer weiter verschwinde.
Nach der Flucht war alles anders. Es gab keine andere Wahl, sagt Vater immer. Wir haben zurückgelassen, geopfert und aufgegeben. Alles, was wir einmal waren, ist jetzt nicht mehr von Bedeutung. Das große Haus, das viele Geld, das schnelle Auto, der Platz an der Sonne. Jetzt gibt es nichts mehr zu wählen, sagt Mutter dann immer.
Ich tauche in das Licht einer Straßenlaterne ein. Es ist kalt und steril, gefühlloses LED. Für einen Moment bin ich strahlend gelb, dann wechsle ich wieder in die trübe Dunkelheit, die hier unten regiert. Andere Menschen kommen mir entgegen, ihre Gesichter kann ich nur in den flüchtigen Momenten erkennen, in denen sie selber durch einen Laternenkegel streifen. Sie sind blass und schmallippig, genau wie ich. Verlorene Raubtiere in einem Urwald aus Schatten. Ich frage mich, welche Sprache sie sprechen.
Der Gehweg mündet in einer breiteren Straße, über deren Mitte eine Schiene verläuft. Darauf gleitet die Tube geräuschlos durch die Innereien der Stadt, windet sich einen Weg über den Bodensatz dieser riesigen, in Plastik verschweißten Blase. Ich schaue nach links und rechts, doch kann nirgendwo eine herannahende Tube erspähen. Ich nutze den Moment, stelle mich auf die Mitte der Straße und schaue aufwärts. Von der Mitte dieser breiten Schneise hat man den besten Blick nach oben. Ich erspähe mehr himmelfarbige Flecken, als ich zählen kann. Von hier aus fällt es mir fast leicht, mir vorzustellen, den ganzen weiten Horizont zu überblicken, über alle Dächer hinweg, bis zu der Linie, die Land und Himmel trennt. Wie wäre es wohl, über diese magische Linie zu treten? Ich würde meine eigene Rakete bauen, die mich vom Land in den Himmel trägt und weit, weit fort von hier bringt. Weg von den beengenden Gassen, den schwindelerregend hohen Häusern, den endlos übereinandergeschichteten Schachtelwohnungen, den nimmersatten Schatten. Weg von den zahllosen Ebenen der Stadt, von denen ich die unterste behause. Doch egal wie sehr ich die Himmelfetzen in meiner Fantasie zusammenflicke, es wird doch keine Decke daraus. Also schaue ich nur verzweifelt auf die Brücken, die sich zwischen den höchsten Häusern spannen, und auf die stummen Fassaden, die mir den Blick verbauen. Ob die Menschen, die dort oben leben, wohl den Horizont sehen? Sie haben schließlich genug dafür bezahlt.
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