Somit haben wir eine erste Idee davon gewonnen, wie die einleitende Kritik Hegels zu verstehen ist. Sie hat, von Anfang an, eine positive Seite, die folgendermaßen artikuliert werden kann: Hegel will nicht mit unbegründeten Voraussetzungen beginnen. Er erläutert dies auch mit Blick auf den Gehalt der zentralen Begriffe (wie derjenigen von Subjekt, Objekt, dem unabhängigen Bestehen des Objekts oder dem Erkennen im Unterschied zum Erkannten): Er will diesen Gehalt, wie er sagt, »geben« (74/71), das heißt: er will ihn entwickeln und nicht voraussetzen.
Hegels Kritik des Projekts der Erkenntniskritik macht selbstverständlich noch nicht klar, wie er selbst sich den Anfang des Philosophierens vorstellt. Dieser Frage wendet er sich im vierten Absatz der Einleitung zu. Gerade hier ist der Text recht kurzatmig und erklärt nicht allzu viel. Nachdem Hegel festgehalten hat, dass unbegründete Voraussetzungen genau das sind, was durch Wissenschaft und damit durch Philosophie überwunden werden soll, heißt es: »Aber die Wissenschaft darin, dass sie auftritt, ist sie selbst eine Erscheinung; ihr Auftreten ist noch nicht sie in ihrer Wahrheit ausgeführt und ausgebreitet.« (74/71) Es ist entscheidend zu klären, was Hegel hier sagen will. Ich schlage vor, ihn folgendermaßen zu verstehen: Wissenschaft ist immer mit Wissensansprüchen verbunden. Wenn diese erhoben werden, ist aber noch nicht klar, ob sie auch tatsächlich eingelöst werden. Das ist zunächst immer eine offene Frage. In diesem Sinne ist Wissenschaft zuerst einmal eine Erscheinung: ein Erheben von Wissensansprüchen, die in der Folge geprüft werden müssen.
Aus diesem Grund stellt Hegel auch nicht zu Beginn ein anderes Projekt gegen das Projekt der Erkenntniskritik. Er sagt in Bezug auf ein solches mögliches Vorgehen in aller Deutlichkeit: » ein trockenes Versichern gilt aber gerade soviel als ein anderes.« (74/71) Wissenschaft kann sich so nicht damit zufriedengeben, dass sie eine bestimmte Position bezieht. Genau darin ist sie eine bloße Erscheinung, wie Hegel sagt, bloß ein trockenes Versichern – oder anders gesagt: bloß ein erhobener Wissensanspruch. Wissensansprüche aber müssen eingelöst werden. Sie müssen sich anderen gegenüber bewähren. Wissenschaft ist eine Praxis, in der Wissensansprüche nicht einfach für sich stehen, sondern zu überprüfen sind. Eine entsprechende Überprüfung aber kann es nur dann geben, wenn das Wissen als Wissen thematisiert werden kann. Nur dann kann sich zeigen, ob erhobene Wissensansprüche auch eingelöst werden. Wissenschaft ist, kurz gesagt, notwendig mit einem Wissen vom Wissen verbunden. Wissenschaft ist nicht nur das Projekt, Wissen zu erlangen, sondern auch das Projekt, Wissen als Wissen zu thematisieren. In der Wissenschaft geht es um ein Wissen vom Wissen, um ein höherstufiges Wissen – ein Wissen, das sich als Wissen weiß. Drückt man es in dieser Weise aus, ist leicht zu sehen, dass Hegel nicht einfach allgemein von Wissenschaft spricht, sondern Wissenschaft in spezifischer Weise versteht: als Philosophie. Die Ausführungen Hegels zur Wissenschaft handeln von Philosophie, präsentieren also Philosophie als Wissenschaft par excellence .
Wissenschaft in diesem Sinn beginnt damit, dass von Positionen Wissensansprüche erhoben werden und dabei ein bestimmtes Verständnis davon vertreten wird, was Wissen ist. Solche Positionen werden immer in konkreter Weise auf etwas bezogen. Sie sind mit spezifischen historischen Umständen verbunden, mit körperlichen Aktivitäten und Interaktionen von Subjekten innerhalb von Gemeinschaften. Wissenschaft ist dabei, wie erläutert, insofern eine Erscheinung, als die erhobenen Wissensansprüche immer einem kritischen Blick unterworfen werden müssen, was in einem Prozess des immer neuen Überprüfens von Wissensansprüchen geschieht. So kann man die erste positive Angabe verstehen, die Hegel macht und der zufolge »diese Darstellung nur das erscheinende Wissen zum Gegenstande hat« (75/72). Die PhG ist also eine Darstellung davon, wie unterschiedliche Ansprüche, ein Wissen vom Wissen zu haben, an sich selbst scheitern und inwiefern daraus Rückschlüsse für ein angemessenes Wissen vom Wissen gezogen werden können.
Damit gewinnen wir zugleich ein erstes Verständnis der wiederkehrenden Rede von einem Weg: Es geht Hegel darum, ein Wissen, das sich als Wissen weiß, in angemessener Weise zu entfalten. Dies soll dadurch geleistet werden, dass unterschiedliche Varianten des Wissens vom Wissen als einseitig verständlich gemacht werden, also als solche, die an ihren Wissensansprüchen scheitern. Dadurch sollen sich zunehmend Konturen eines angemessenen Wissens vom Wissen ergeben. Heidegger schreibt sehr treffend, dass der Weg, den Hegel sich vornimmt, nicht als eine Reisebeschreibung durch das »Museum der Gestalten des Bewußtseins«14 zu verstehen ist. Vielmehr geht es um eine sukzessive Befragung von Einseitigkeiten, die ein Wissen vom Wissen verhindern.
Hegel charakterisiert im Anschluss den Weg, den er sich vornimmt, mit zwei weiteren Formulierungen, die beide auf ihre Weise klärend sind. Er charakterisiert ihn als den »Weg des natürlichen Bewusstseins, das zum wahren Wissen dringt« (75/72), und als »Weg der Verzweiflung« (75/72). Das »natürliche Bewusstsein«, von dem Hegel hier spricht, ist nicht mit der »natürlichen Vorstellung« zu verwechseln, die am Anfang der Einleitung steht. Wie wir gesehen haben, ist die »natürliche Vorstellung« eine solche, die Hegel überhaupt nicht für natürlich hält. Er ist vielmehr der Meinung, dass in dem Projekt der Erkenntniskritik viele unbegründete und überhaupt nicht selbstverständliche Voraussetzungen stecken. Hegels Charakterisierung der Vorstellung als »natürlich« ist also als ironisch zu verstehen. Seine Rede von einem »natürlichen Bewusstsein« ist hingegen nicht ironisch. Sie bezeichnet vielmehr ein einfaches Wissen vom Wissen im Sinne eines Wissensanspruchs, der besonders voraussetzungslos vertreten wird.
In dieser Erläuterung steckt eine entscheidende These, die Hegel mit vielen seiner Vorläufer teilt: Jedes Bewusstsein ist ein Wissen vom Wissen. Bewusstsein ist immer Selbstbewusstsein. Dies hat bereits Descartes behauptet,15 und alle wesentlichen neuzeitlichen Positionen sind ihm darin gefolgt. Hegel macht damit noch einmal deutlich, dass es ihm nicht darum geht, seinen Vorgängern einfach eine andere Position entgegenzusetzen. Er will vielmehr von gegebenen Positionen ausgehend eine Position entwickeln, die nicht mehr an ihren Wissensansprüchen scheitert. Das natürliche Bewusstsein ist als ein selbstverständlich erhobener Wissensanspruch ein geeigneter Ausgangspunkt, um zu diesem Punkt zu gelangen.
Auf der Basis des bislang Geklärten lässt sich auch verstehen, was Hegel meint, wenn er von einem »Weg der Verzweiflung« spricht. Es handelt sich um einen Weg, in dem zunehmend die Selbstverständlichkeit, Wissensansprüche zu erheben, verlorengeht. In diesem Sinn verzweifelt das natürliche Bewusstsein. Diese Verzweiflung ist dabei nicht einfach ein theoretisches Geschehen, sondern hat eine existentielle Dimension. In dem Maße, in dem das Erheben von Wissensansprüchen für uns immer selbstverständlich ist und auf selbstverständliche Weise vollzogen wird, sind wir es, die verzweifeln. Die PhG behandelt unterschiedlichste Positionen, denen das Erheben von Wissensansprüchen in der ein oder anderen Weise selbstverständlich ist. Und da sich immer wieder Selbstverständlichkeiten in das Erheben von Wissensansprüchen einschleichen, geht die Verzweiflung immer weiter.
Hegel stellt genau in diesem Sinne einen Bezug zum Skeptizismus her, indem er von einem »sich vollbringende[n] Skeptizismus« (75/72) spricht. Der Skeptizismus ist eine Position, die besagt, dass wir nicht zu Wissen gelangen können. Es gibt ihn mindestens in einer antiken und einer neuzeitlichen Variante. Der antike Skeptizismus der pyrrhonischen Schule plädiert auf Basis der These von der Unmöglichkeit des Wissens für eine bestimmte Lebenshaltung. Hegel kommentiert diese Variante des Skeptizismus im Rahmen des Selbstbewusstseinskapitels. Der neuzeitliche Skeptizismus vertritt hingegen die These von der Unmöglichkeit des Wissens im vollen Sinne; so zum Beispiel in der Variante, die David Hume (1711–1776) vor Hegel explizit vertreten hat.16 Hegel knüpft mit seiner Bemerkung in der Einleitung mehr an dieses neuzeitliche Verständnis des Skeptizismus als an seinen antiken Vorläufer an. Dass der Skeptizismus sich vollbringt, heißt so gesehen: Das Verzweifeln an den Selbstverständlichkeiten, die bei Wissensansprüchen im Spiel sind, führt dazu, dass Wissen als eine zunehmend unsichere Sache erscheint. Genau dies aber ist eine grundsätzliche Voraussetzung von Wissen: Wissen ist nur im Durchgang durch den Skeptizismus möglich. Es muss ausgehalten werden, dass Wissen nicht endgültig abgesichert zu werden vermag. Alles Wissen muss so die Herausforderung des Skeptizismus bestehen, und zwar nicht in dem Sinne, dass der Skeptizismus widerlegt wird (wie unter anderem Kant dachte),17 sondern in dem Sinne, dass der Skeptizismus als Herausforderung aller Wissensansprüche zugelassen wird. Der Skeptizismus ist eine Bedrohung unseres Wissens; aber er wäre falsch verstanden, wenn man ihn als allein destruktiv verstünde. Konsequent betrachtet ist der Skeptizismus produktiv. Erst durch den Skeptizismus wird Wissen möglich, das Bestand hat. Hegel verkehrt damit die skeptische Doktrin: Der Skeptizismus ist für ihn eine Theorie von der Möglichkeit des Wissens, die sich gerade aus dem Abbau von Selbstverständlichkeiten ergibt. Wir können jetzt vielleicht besser verstehen, wie Hegel seine Überlegungen zusammenfasst:
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