F. Schütz
Meinen Eltern gewidmet.
Gute Früchte des Geistes
Clara erzählt Geschichten
1. Ein Besuch
Am Rande des Waldes wurde ein schmuckes Häuschen sichtbar, das sich malerisch von dem Grün der Bäume abhob. Dort wohnt in der idyllischen Abgeschiedenheit die Familie meiner Schwester. Der anstehende Besuch wurde kurzfristig anlässlich einer unerwarteten Erbschaft vereinbart. Unter der Hand mochte ich noch gerne meine Nichte Clara aufsuchen, die schon längere Zeit immer wieder kränkelte. Ich bekam mit, dass nicht längst die Krankheit viel stärker angegriffen hätte als jemals.
Der uns von einem Onkel zugefallene Nachlass war nicht groß. Die standesgemäße Bestattung des Witwers, der kinderlos starb, hatte das Erbe fast aufgebraucht. Der Bruder unserer Mutter erreichte ein hohes Alter und war bis zuletzt auf den Beinen. Wir hatten ihn lieb, wenn er auch mitunter Züge eines Sonderlings aufwies. Meine Schwester und ich erledigten also alles Nötige, um den Erbschein zu beantragen. Wir fühlten uns wie Hänsel und Gretel im bürokratischen Blätterwald. Schon die Begrifflichkeit, – das Nachlassgericht beim Amtsgericht – hat uns mit Schrecken erfüllt. Wir hätten alles daraus Folgende nicht auf uns genommen, wenn nicht Onkels handgeschriebenes Testament mit unseren Namen auftauchte. Die Annahme der Erbschaft geschah nicht nur aus einem Pflichtgefühl, – wir konnten unseren lieben Oheim nicht verleugnen.
Die unausweichliche Besprechung nahm mehr Zeit in Anspruch, als ich dachte. Schließlich wurden wir fertig und ich trug noch meinen Wunsch vor, Clara zu begrüßen. Ich fragte auch die Schwester, ob Ärzte etwas herausfanden.
»Nichts Bestimmtes«, sagte sie frustriert. »Keine Gefahr, keine Abweichungen, alles in Ordnung. Gegenwärtig ist zur Vorsorge die Bettruhe angeordnet, aber Clara darf lesen, Musik anhören oder etwas anschauen.«
»Der menschliche Körper verhält sich zuweilen so rätselhaft«, besänftigte ich meine Schwester. »Wollen hoffen, dass es bald besser mit dem Kind wird.« Wir unterhielten uns des Weiteren bezüglich der Krankheit. Ich meinte noch, ob nicht das Hinscheiden des Onkels die Beschwerden verschlimmert habe. Die Schwester antwortete, sie sehe keinen Zusammenhang.
Mein Urteil war nicht so eindeutig. Die Nichte fand die Erzählungen des Onkels sehr faszinierend. Sie hatte mir einmal gesagt, dass sein bewegendes Leben einem verzierten Ornament gleiche. Dass die weit auseinanderlaufenden Ranken unerwartet zusammen kommen und eine üppige Weintraube bilden. »Solche Wertschätzung löst sich nicht von heute auf morgen auf«, dachte ich mir. So überlegend ging ich endlich zum Claras Zimmer.
Die Nichte, ein Mädchen mit großen sanften Augen und dunklen, welligen Haar, lag im Bett, an die Kissen angelehnt. Auf ihrem bleichen Gesicht leuchtete einen Augenblick die Freude des Wiedersehens.
»Hallo Onkel!« Die Nichte rief ihren Gruß mit einer schwachen Stimme.
»Guten Morgen, Clara!«, erwiderte ich betont frisch. »Wie geht es dir?« Ich strebte an, munter zu wirken. »Bist schon über den Berg?« Eigentlich war meine Frage überflüssig. Während des Sprechens merkte ich ein Buch in einer und ein Smartphone in anderer Ecke herum liegen.
»Mir ist so langweilig«, tönte es lang gezogen aus dem Bett.
Wir wechselten einige Worte. Dann hörte ich eine Bitte, die mich zeitlich unter Druck setzte.
»Onkel, erzähle mir etwas«, bettelte die Kranke.
»Ach Clara, ich muss schon bald losfahren, habe leider keine Viertelstunde übrig«, versuchte ich mich zu entschuldigen.
»Es ist wie immer, niemand hat Zeit für mich«, sagte meine Nichte trostlos. »Papa ist wieder auf einer grässlichen Dienstreise und Mama versteckt sich im Arbeitszimmer!«
»Es ist wahr«, gab ich gedanklich Clara recht. Meine Schwester arbeitete gerade angestrengt am verschleppten Abschluss eines Projektes. Daher sah ich ein, dass eine Hilfe nötig war. Aber meine Zeit war wirklich sehr knapp bemessen. Ich fühlte mich schuldig, dass für Clara von dem Besuch so wenig verblieb. Was jetzt? Zaudernd und ratlos saß ich am Bett. Die Pause verzögerte sich zusehend. Da wurde mir eine rettende Idee geschenkt. Ich langte nach der Reisetasche, zog meine Bibel heraus und blätterte ein wenig darin.
»Clara, du hast deine Fantasie und einen Geist in dir, der nicht auf dein Zimmer beschränkt ist, der frei ist und die Welten durchdringen kann. Ich komme am nächsten Freitagabend. Aber nicht ich werde erzählen, sondern du!«
Clara schaute mich verblüfft an: »Onkel, wie meinst du das?«
»Ich habe für dich ein Wort herausgesucht. Darauf gründest du die Erzählung. Deine Geschichte soll das Wort erklären und dessen Bedeutung vor Augen führen.«
»Onkel, das ist aber eine ungeheuerlich schwere Aufgabe!« Clara ist reizbarer geworden, früher begehrte sie nicht momentan auf.
»Bis dahin ist noch über eine Woche Zeit«, sagte ich versöhnend. »Außerdem soll die Geschichte nicht gleich preisverdächtig sein. Wenn du es nicht schaffst, vertagen wir das Treffen.«
»Es ist ja unglaublich, so eine List!«, warf Clara kampflustig ein. »Nein, du entgehst mir nicht! Das Treffen am nächsten Freitag ist abgemacht.«
Ich frohlockte innerlich, so gefiel mir ihre lebhafte Stimmung schon viel besser.
»Du weißt noch gar nicht, welches Wort ich gewählt habe«, neckte ich Clara.
»Das stimmt«, erschreckte sie. »Ist das Wort sehr schwer zu deuten?«
»Wie man es nimmt.« Ich gab Clara ein Rätsel auf: »Das Wort wird öfters leichthin geäußert, ist aber sehr schwer zu erfüllen.«
»Kranke Teenager darf man nicht ärgern«, hielt sie die Spannung nicht aus.
»Gut, gut!«, ich lenkte ein. »Auch gesunde Teenager darf man nicht ärgern. Weder das kleinste Tier noch die Erwachsene oder die Kinder.«
»Ich weiß das alles, lieber Onkel. Das Wort bitte«.
Ich lächelte nachsichtig. »Du hast es schon fast ausgesprochen. Das Wort ist – Liebe. Ich meine aber die göttliche Liebe, die bedingungslos und einseitig ist.«
»Oh!«, rief Clara kleinmütig. »Wie soll es denn gehen mit so einem Wort?«
»Na also. Ich folgere daraus, dass der Tag der Zusammenkunft offenbleibt.«
»Nein, wir machen den vereinbarten Freitagabend fest«, entschied sich Clara.
»Schön! Wenn du mir die Geschichte vorgetragen hast, bekommst du das nächste Wort. Wir machen eine Serie daraus.«
»O wie herrlich!«, jubelte Clara auf. »Auf Nimmerwiedersehen, Langeweile!«
Ich verabschiedete mich von Clara mit leichtem Herzen, sagte meiner Schwester Ade und eilte zu meinem Termin. Unterwegs kreisten meine Gedanken unaufhörlich um die vertrackte Krankheit. Ich kam zum Schluss, dass die Ursachen sehr verwickelt sein sollten.
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