Zwischen Unternehmen und Arbeitnehmern spielt auch Gerechtigkeit eine Rolle
Hier benötigen wir sinnvolle Impulse aus der Politik, zum Beispiel eine zeitlich befristete Phase der Leiharbeit. So sollte ein Unternehmen meiner Meinung nach keine »Ketten«-Leihverträge mit einem Arbeitnehmer schließen dürfen. Ein Betrieb, der ein- und denselben Mitarbeiter über mehrere Jahre als Leiharbeiter beschäftigt und nicht übernimmt, überschreitet die Fairness-Grenze hin zur Ausbeutung und verletzt den »Gerechtigkeitsvertrag« zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer.
Darunter leidet nicht zuletzt die Loyalität des Mitarbeiters. Jeder Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin geht mit dem Arbeitgeber einen solchen mentalen Gerechtigkeitsvertrag ein. Er hat bestimmte Vorstellungen davon, was er leisten will und kann und wie er dafür behandelt werden will. Dieser Gerechtigkeitsvertrag kann leicht brüchig werden, wenn Arbeitnehmer das Gefühl haben, der Arbeitgeber verstoße gegen dieses Gerechtigkeitsgebot. Daher ist die Mindestanforderung, dass der Arbeitgeber bei einem subjektiven »Verstoß« (zum Beispiel einer Ausgliederung zu schlechteren Konditionen) die Gründe hierfür darlegt und um Verständnis wirbt. Denn lokale und globale Veränderungen am Arbeitsmarkt und in der Wirtschaft schlagen ja nicht nur auf »die Unternehmen« durch, sondern selbstverständlich auch auf die Beschäftigten. Nur wenn wir alle das (ökonomische) Schicksal des Einzelnen im Blick behalten, können Unternehmer und Politiker verantwortungsvoll entscheiden.
Nichts zeigt das besser als die Immobilienkrise in den USA. Dort ging es plötzlich nicht mehr um abstrakte Hypotheken oder »asset backed securities«, sondern um obdachlose Menschen, die ihr gesamtes Hab und Gut verloren hatten und bis an ihr Lebensende auf Schulden sitzenbleiben werden. Natürlich haben diese Menschen ebenso Verantwortung für ihre Situation zu tragen. Sie haben schließlich die Kreditverträge unterschrieben. Doch es ist bezeichnend, dass in den Banken für eine besonders hoffnungslose Variante des Kredits eine eigene Bezeichnung kursierte: NINJA, »no income, no jobs or asset«. So wurden Kreditnehmer bezeichnet, von denen man von vornherein wusste, dass sie keine Arbeit, kein Einkommen oder sonstiges Vermögen hatten: »Durch die US-Politik, dass jeder US-Bürger doch ein eigenes Häuschen haben möge, wurde von den Banken erwartet, eine entsprechende Kreditversorgung zu gewährleisten. Die Banken ließen sich nicht zweimal bitten und boten 100-Prozent-Finanzierungen für Immobilienkäufe an. Bei schlechter Bonität des Kreditnehmers wurden höhere Zinsen vereinbart, um das Risiko auszugleichen. Auch ging die ganze Branche davon aus, dass die Immobilien später gewinnbringend verkauft werden konnten. Die Ninja-Kredite wurden massenhaft unters Volk gebracht, die Verkäufer sahnten dabei reichlich Provisionen ab und wurden dadurch angestachelt, noch mehr Ninja-Kredite zu vergeben – bis irgendwann die Blase platzte.« 39Dass man diesen Menschen dennoch Kredite gab, ist eindeutig die Verantwortung der Finanzindustrie. Aufgrund der ökonomischen, faktisch gegebenen »neuen Unsicherheit« müssen wir in der Debatte deshalb das tun, woran man normalerweise nicht extra erinnern braucht: Wir müssen in menschlichen Maßen denken, nicht in abstrakten Begriffen. Die Konsequenzen bis hinunter zu den einzelnen arbeitenden Menschen sollten durchdacht werden, ohne sie vorher aus ideologischen oder Bequemlichkeitsgründen auszublenden.
Hartz IV und die (unbeabsichtigten) Folgen: soziale Abwertung
Dass dies nicht immer gelingt, zeigen die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen der letzten Jahre, etwa die Hartz-IV-Gesetze. Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe war vor allem eins: ein psychologischer Fehler. Auch wenn es Menschen schlecht geht, schöpfen sie Motivation aus dem Vergleich mit anderen Menschen, denen es noch schlechter geht: »Ich habe Schnupfen, aber mein Nachbar hat sich das Bein gebrochen. Er ist noch schlimmer dran.« Dieser Abwärtsvergleich, downward comparison genannt, ist vielleicht moralisch fragwürdig, aber eine Tatsache. Nachdem sich nun Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger plötzlich auf einer Stufe wiederfanden, fehlte für Erstere dieser Abwärtsvergleich. Plötzlich waren sie selbst »ganz unten«. Dies ist fatal, weil eine Gruppe sich einerseits nach innen ihrer selbst versichern, sich aber auch nach außen ebenso sichtbar abgrenzen will. Diese Abgrenzung nach unten war nun nicht mehr möglich. Die ursprüngliche Gruppe »Arbeitslose« verschmolz mit der Gruppe »Sozialhilfeempfänger«.
Nun setzte ein Mechanismus ein, der in der Sozialpsychologie »labelling« – Etikettierung – genannt wird: »Okay, wenn alle Welt glaubt, dass ich ganz unten bin (einschließlich mir selbst), dann benehme ich mich auch, als wäre ich ganz unten.« Die Bezeichnung »hartzen« entstand und verankerte dieses Label dauerhaft. Für diejenigen, die trotz aller widrigen Umstände versuchen, aus dieser Gruppe auszubrechen und wieder eine Arbeit zu finden, wird es schwer. Denn die Gesellschaft ihrerseits reagiert mit Vorurteilen auf »Hartz-IVler«, nicht zuletzt befördert durch die Boulevardmedien. So stellt die medienkritische Seite BILDBlog fest: »Gegen Hartz-IV-Empfänger zu hetzen, gehörte bei ›BILD‹ ja schon immer zu den Königsdisziplinen.« 40Und auch der paritätische Wohlfahrtsverband meldete sich zum Thema Hartz IV und BILD zu Wort: »Hier wird ohne jede empirische Grundlage auf unverantwortliche Art und Weise gegen Millionen Menschen gehetzt und ein Bild der schmarotzenden Massen geschürt, das mit der Realität nichts zu tun hat«. 41Die BILD-Zeitung verstärkt durch ihre Kampagnen den Abwärtsvergleich in einer gesellschaftlichen Dimension und sorgt so für eine latente Entsolidarisierung breiter Bevölkerungsschichten gegenüber den ökonomisch Schwächsten. Die neue Unsicherheit wird dadurch unnötig verstärkt.
Wenn die Lebensentwürfe weniger planbar werden, muss die Vermögensplanung flexibel werden
Wenn immer mehr Menschen verunsichert sind und sich auf ihre langfristige ökonomische Versorgung nicht mehr verlassen können, hat das Auswirkungen auf die Lebensplanung insgesamt. Man kennt das aus der Wirtschaft: Praktisch jede Firma unternimmt eine jährliche Budgetierung und versucht, Einnahmen, Kosten, Investition und Gewinn unter einen Hut zu bringen. Was nun für ein Unternehmen die prognostizierten Einnahmen aus Aufträgen etc. sind, das ist für den Normalbürger sein geplantes, vielleicht schon verplantes Einkommen. Und genau wie Unternehmen in schwankenden Märkten oder in Krisen Anpassungen vornehmen müssen, Pläne angleichen oder auch einmal Mitarbeiter entlassen, müssen Menschen ihre Finanz- und Lebensplanung anpassen, wenn sie nicht mehr mit einer festen Arbeitsstelle oder einem festen Einkommen rechnen können. Dass dies immer mehr Menschen betrifft, ist eine Tatsache, mit der wir uns auseinandersetzen sollten. Ich rede weder einer wirtschaftlichen »Vollzeitstellen-Landschaft« das Wort noch einer totalen Flexibilisierung. Wir müssen uns vielmehr als arbeitende Gesellschaft darauf einstellen, dass wir bestimmte Dinge nicht mehr planen können bzw. uns in einem ständigen finanziellen Krisenmanagement befinden (Krise nicht in dem Sinne, dass es uns schlecht geht, sondern im Sinne von ständiger Wachsamkeit und Anpassung).
Auf den Prüfstand müssen notgedrungen als Erstes die Dinge kommen, die eine langfristige finanzielle Planung erfordern und uns binden: Hausbau, Familiengründung, größere Anschaffungen etc. Beispiel Hausbau: Immer noch inszenieren Banken und interessierte Finanzdienstleister Kampagnen, um dem Einzelnen einen Hausbau schmackhaft zu machen. Weil ein Haus ja angeblich »eine Investition in die Zukunft« sei, die sich irgendwann rechne. Doch Fakt ist: Wenn Sie ein Haus bauen oder kaufen, ist das zunächst nur für die Bank eine Investition (die Ihnen einen Kredit gibt und dafür Sicherheiten verlangt). Für Sie ist das 20 oder 30 Jahre lang eine Verbindlichkeit . Das ist ein enormer Unterschied. Die Bank gewinnt immer: Entweder Sie zahlen den Kredit mit Zinsen zurück oder die Bank kassiert die Sicherheit. Sie dagegen sitzen auf einem Schuldenberg von ca. 250 000 Euro + X, den Sie über die nächsten 25 Jahre langsam abbauen. Dieses Geschäftsmodell harmoniert sehr gut mit einer Wirtschaftswundergesellschaft im Vollzeitstellen-Modus. Dort war auch das Ausfallrisiko für Sie als Kreditnehmer überschaubar. In der Gegenwart jedoch ist nur eines sicher: die Unsicherheit. Daher steigt das Risiko eines Kreditausfalls (weil Sie Ihren Job verlieren) überproportional zum Risiko der Bank. Eigentlich macht ein solches Geschäft heutzutage für die meisten Häuslebauer ökonomisch keinen Sinn, sondern bringt ihnen schlaflose Nächte – was eine völlig normale Reaktion ist. Nur wird man indoktriniert von der Werbung und vom Mainstream, weil »man« sich eben ein Haus baut und damit immer noch gesellschaftlichen Erfolg und Status verbindet.
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