Sho war zwar an der Waffe ausgebildet, wie wir alle, aber sein eigentlicher Gefechtsbereich waren nun mal Computer und IT. Ob er es im Ernstfall wirklich schaffen würde, zu schießen, war fraglich. Dass Garrett sich schon eingeschaltet hatte, ließ mich ruhiger atmen. »Okay. Gut. Wir könnten Carol bitten, ihn ausfindig zu machen …«
Er schüttelte den Kopf. »Das hätte ich schon längst beantragt. Aber ich brauche mindestens zwei Personen, um ihn aufzuspüren, und sie müsste mehrere Lesungen vornehmen. Ihr wisst genau, wie anstrengend das für sie ist. Mehr als drei pro Tag kann sie nicht schaffen, und in letzter Zeit wissen wir doch kaum, wo uns der Kopf steht.«
Jon stieß geräuschvoll die Luft aus. »Ja. Das stimmt leider. Okay. Dann müssen wir einfach ständig Ausschau nach ihm halten. Wir finden bestimmt noch Zeit dafür, das aufzuklären. Nach diesem Fall vielleicht. Und das nächste Mal, wenn du den Wagen siehst, rufst du uns an. Donovan hilft Garrett, den Typ ans Licht zu zerren, und wir schleppen ihn persönlich aufs Revier.«
Sho nickte, einen Ausdruck der Vorfreude auf dem Gesicht. »Mach ich. Danke.«
Detective Singleton fuhr in einem roten Pick-up vor und parkte neben uns. Er stieg aus und winkte. »Morgen. Alle startbereit?«
»Na klar.« Jon zog die Autoschlüssel hervor und ging zur Fahrerseite.
Singleton setzte sich vorn neben Jon, um uns zu lotsen. Keiner von uns wusste, wo das Krankenhaus lag. Ich hätte zwar das GPS nutzen können, aber es war einfacher, Singletons Anweisungen zu folgen. Er sah sich gründlich im Fahrzeug um, während er sich anschnallte. Seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, wurde sein inneres Kind gerade etwas neidisch. Diese Reaktion war bei Männern nichts Ungewöhnliches – viele wünschten sich insgeheim auch ein so cooles Spielzeug.
»Wo geht’s lang?«, fragte Jon, als Sho und ich auf dem Rücksitz Platz genommen hatten.
»Nach rechts. Wir müssen zur 66 und dann nach links.«
Jon ließ den Motor an und fuhr los.
Singleton drehte sich halb um, sodass er uns alle sehen konnte. »Ich habe noch nicht oft mit Paranormalen gearbeitet, und mit einer ganzen Agentur schon gar nicht. Ich hätte da eine Frage: Sind Sie eigentlich immer nur auf Stippvisite? Rein, Beweise finden, Vernehmungen durchführen und wieder raus? Oder übernimmt die Agentur auch komplette Fälle?«
»Wir machen beides«, antwortete Sho. »Meistens ist es Ersteres, aber es kommt auch vor, dass wir einen Fall von Anfang bis Ende betreuen. Das passiert dann, wenn die Polizei nicht genügend Spuren für die Ermittlung hat. Und manchmal fehlt auch Manpower, und sie borgen uns aus. Warum fragen Sie, Detective?«
»Nennen Sie mich bitte Neil. Bei uns ist es gerade eine Mischung aus beidem.« Sein Blick hing an Jon, und obwohl ich ihm glaubte, spürte ich, dass er noch ein unterschwelliges weiteres Motiv hatte. »Das halbe Revier ist wegen Grippe krankgeschrieben. Und die einzigen Spuren, die wir hatten, sind gerade in Rauch aufgegangen. Ich bin nicht sicher, wie viel Caleb aus den Überresten noch wird ersehen können.«
Das schien mir kein großes Problem zu sein, außer dass wir nicht für mehr als eine Übernachtung gepackt hatten. »Ich hätte nichts dagegen, einzuspringen. Wir müssten nur für einen längeren Aufenthalt packen und ein Hotel finden. Allerdings weiß ich nicht, wie lange wir tatsächlich abkömmlich wären. Wir werden auch in Nashville noch gebraucht.«
»Und wenn wir Sie offiziell anfordern würden?«
»Im Prinzip geht das, aber das müssten Sie mit Jim ausmachen. Er ist für unsere Einsatzpläne zuständig.«
Ich warf Jon einen Seitenblick zu, konnte aber seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen. Wie er das wohl fand? Immerhin protestierte er nicht.
»Dann frage ich mal beim Captain nach, ob er sich für die Idee erwärmen kann.« Singleton lehnte sich zurück. »Ich gebe zu, im Moment stehen wir vor einem Rätsel. Es gibt keinen einzigen Verdächtigen in diesem Fall. Ich glaube nicht, dass es die Tochter war.«
»Sie erscheint Ihnen überhaupt nicht verdächtig?«
»Nein. Sie war ehrlich bestürzt über seinen Tod. Hat kaum zusammenhängende Sätze herausbekommen, weil sie so weinen musste. Außerdem hätte sie einen Komplizen gebraucht, und sie ist ganz alleine hier. Zumindest habe ich keine Spur gefunden, dass jemand ihr gefolgt ist. Ehrlich gesagt fehlt mir auch das Motiv. Vielleicht die Erbschaft, aber ich weiß noch nicht, wie vermögend Richard Witherspoon eigentlich war. Wir sind noch nicht dazu gekommen, seine Finanzen zu prüfen. Jon, Sie würden es erkennen, wenn die Tochter etwas damit zu tun hätte, richtig?«
»Ja«, bestätigte er. Er verlangsamte das Tempo und bog auf den zweispurigen Highway ab.
»Wie funktioniert das denn genau? Was sehen Sie, wenn Sie einen Verdächtigen vernehmen?«
»Es zeigt sich in der Aura, insbesondere auf den Energiebahnen«, erklärte Jon. »Jeder Mensch hat eine Aura, das wissen Sie ja bestimmt. So, und ich kann die Meridiane lesen, aus denen sich die Aura zusammensetzt. Es ist nicht nur eine hübsche Energie, aus der die Seele besteht, oder was für pseudopsychologische Erklärungen Sie bisher so gehört haben. Die Meridiane sind direkt mit der lebenden Energie des Körpers und seiner physischen Struktur verbunden. So ähnlich wie die Chakrapunkte, nur etwas variabler. Diese Bahnen kann ich lesen. Bestimmte Farben in Verbindung mit bestimmten Bereichen des Körpers bedeuten bestimmte Dinge. Die meisten Emotionen, die wir erleben, sind flüchtig, sogar trivial. Aber Erlebnisse, die sich auf die Psyche auswirken, begleiten uns unser ganzes weiteres Leben lang. Ich sehe zum Beispiel, dass Sie Ende fünfzig sind, dass Sie zeit Ihres Lebens in Tennessee gelebt haben und dass Sie bisexuell sind. Ich kann außerdem sehen, dass Sie eine stabile Beziehung führen, aber noch nicht sehr lange, etwa seit fünf Jahren.«
Singleton machte ein Geräusch, als hätte er sich verschluckt. »Du meine Güte. Das ist ja …«
Ich beobachtete ihn scharf, um sicherzugehen, dass er das ohne Probleme hinnahm. Es waren nicht alle so locker wie ich. Er schien mehr als überrascht, aber auch fasziniert.
Jon fühlte sich wahrscheinlich etwas schuldig, denn er zuckte die Achseln und fügte hinzu: »Es ist nicht einfach, emotionale Geheimnisse vor mir zu haben.«
Singleton entspannte sich und lachte. »Damit hat Ihre bessere Hälfte bestimmt viel Spaß.«
Ich beugte mich vor und sprach ihn direkt an: »Ich schaffe es eigentlich besser, als man denkt. Aber ich muss mir ziemliche Mühe damit geben.«
Singleton fuhr herum. »Wie bitte? Sie beide sind ein Paar? Nicht nur Medium und Anker?«
»Ja, das sind wir.« Ich machte mir keine Sorgen über seine Reaktion, da er ja bisexuell war. Allerdings war er so überrascht, dass es mir so vorkam, als steckte da noch mehr dahinter. Was, blieb unklar. »Das überrascht Sie?«
»Äh«, antwortete er nicht sonderlich intelligent. Dann schluckte er und fuhr fort: »Caleb dachte immer, seine ganze Familie sei homophob.«
Ich schnaubte. »Im Gegenteil! Alle drei Frauen haben mich geradezu genötigt, mich um Jon zu bemühen.«
»Das hat mich anfangs fast schon dazu gebracht, mich zu sträuben«, warf Jon beiläufig ein, mit einem süßen Lächeln über die Schulter. »Ein Glück, dass du so unwiderstehlich bist, Babe.«
»Ja, ja, schieb nur alles auf mich. Neil, Sie sollten allerdings wissen, dass nicht alle Leute so entspannt mit Jons Gabe umgehen. Es kommt regelmäßig vor, dass ihm deswegen jemand nach dem Leben trachtet. Personenschutz für ihn war mit ein Grund, warum ich überhaupt bei der Psy angefangen habe.«
Jon brummte unwillig. »Das sollst du ihm doch nicht erzählen! Das macht immer den Eindruck, als wäre ich ein Fräulein in Not.«
»Na logisch werde ich ihm das erzählen, denn er ist Polizeibeamter, und hier läuft ein Mörder frei herum«, gab ich sofort zurück. »Du solltest deine Sicherheit nicht auf die leichte Schulter nehmen.«
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