Diese Merkmale sind jedoch zu wenig spezifiziert, um sie als Prinzipien der Arbeitsgestaltung zu nutzten. Deshalb wurden diese Merkmale direkt mit objektiven Merkmalen von industriellen Tätigkeiten verbunden. Dazu gehören: eine optimale Vielfalt und Abwechslung an bedeutsamen Tätigkeiten, eine optimale Länge und Dauer der Einzeltätigkeiten, die Möglichkeit aus der Tätigkeit selbst Feedback über die erreichte Quantität und Qualität zu erhalten, die Verrichtung auch arbeitsvorbereitender Tätigkeiten, die Wahrnehmung, dass die für die Tätigkeiten genutzten Fertigkeiten und Fähigkeiten in der Gesellschaft positiv gewertschätzt werden sowie dass die Tätigkeiten ebenso einen Beitrag zum Kundennutzen leisten.
Es ist zu erahnen, dass sich Hackman und Oldham in ihrem Modell der Motivierungspotenziale in der Arbeit (
Kap. 6) auf diese sozio-technischen Systemmerkmale unmittelbar beziehen. Die sozio-technische Systemtheorie wiederum bezieht sich auf das kybernetische Konzept der Selbstregulation und der autonomen Gruppen als lernende Systeme (Trist, 1981).
Betrachtung aus heutiger Sicht
Insgesamt lässt sich nach Kirchler et al. (2004) sagen, dass die Untersuchungen der Tavistock-Gruppe in der englischen Kohleförderung in ihrer Bedeutung vergleichbar sind mit der Bedeutung der Hawthorne-Studien für die Human Relations-Bewegung. Sie gelten als Pionierarbeiten der sozio-technischen Theorien. Ausgehend von diesen Arbeiten folgte eine Weiterentwicklung der Theorie um den Aspekt der »industriellen Demokratie« (Emery & Thorsund, 1969) und des partizipativen Designs (Emery & Emery, 1974).
Eine der wichtigsten Errungenschaften des sozio-technischen Systemansatzes ist dabei zum einen die Wortschöpfung (der sozio-technischen Systemgestaltung), die aus dem heutigen Sprachgebrauch auch der Ingenieurwissenschaften nicht mehr wegzudenken ist (auch wenn es häufig an der Umsetzung hapert) und die Etablierung eines »mind-sets«. Dieses sozio-technische mind-set führt dazu, dass man sich in produzierenden Systemen vor einer technischen Veränderung damit befasst, wie sich diese auf das sozio-technische System als Ganzes auswirken wird. Eine sozio-technische Systemanalyse hat das Potenzial, im Vorhinein die sozialen Auswirkungen technischer Veränderungen zu antizipieren. Mehr dazu später im Kapitel zur Arbeitspsychologie (
Kap. 6).
Während sich der Begriff des sozio-technischen Systems auch in Deutschland durchgesetzt hat, sind die konkreten Gestaltungprinzipien der sich selbstregulierenden Gruppen eher weniger enthusiastisch aufgegriffen worden. Es wird vermutet, dass diese bei Unternehmen wie auch Gewerkschaften (Ulich, 2001) eher Ängste von der Unkontrollierbarkeit solche Gruppen auslösten. Erst in den 1990er Jahren mit der Woge der Lean Production (
Kap. 1.3.1) konnte sich auch in Deutschland zumindest die teil-autonome Gruppenarbeit durchsetzen.
Sozio-technische Systemtheorie heute: Organisationen als sozio-digitale Systeme
In modernen Industrienationen finden wir heute fast keinen Kohlebergbau wie in den Jahren der Entstehung der sozio-technischen Systemtheorie mehr. Die Mitarbeiter/innen in Organisationen haben aus einer technischen Perspektive vor allem mit Computertechnologie zu tun, mit deren Hilfe Kundenbestellungen aufgenommen werden, Produkte in die Produktion eingestellt werden, die Auslieferung oder Versendung der Kundenbestellung überwacht oder Beschwerden von Kunden/innen entgegengenommen werden. Amazon, Zalando und andere online-Verkaufsportale (e-business) sind Beispiele für sozio-digitale Systeme. Selbst wenn Sie heute in ein Restaurant, ein Café, eine Eisdiele oder ein Bar gehen, werden die Bestellungen oft mit Handheld-Geräten aufgenommen und gleich in die Küche oder den Barbereich weiter gemeldet.
In den letzten Jahren haben Organisationen sich in derartige sozio-digitale Systeme entwickelt, auch wenn sie kein Online-Händler für Privatkunden sind. Auch wer Baumaterial an Baumärkte liefert (also im Business-to-Business-Geschäft) oder in einer Boutique oder einem Elektronikfachmarkt Endkunden mit neuer Ware bedient, bildet zumeist ein sozio-digitales System. Ein von Ihnen gewünschtes Produkt ist nicht da? Dann lassen Sie den Verkaufsberater in seinen Rechner schauen, um festzustellen, wo die Ware ggf. noch vorhanden ist.
In sozio-digitale Firmen werden fast alle bedeutsamen Geschäftsbeziehungen zu den Kunden/innen, Zulieferern und Mitarbeiter/innen digital ermöglicht oder vermittelt. Die organisationalen Kernprozesse werden durch digitale Netzwerke, die sich durch die gesamte Organisation spannen oder mehrere Organisationen verbinden, ermöglicht. In sozio-digitalen Systemen werden die Kernprozesse durch den digital gesteuerten Materialfluss, und den Fluss von Informationen und Wissen unterstützt oder erst möglich.
Diese sozio-digitalen Systeme werden vor allem durch Management-Informationssysteme (MIS) möglich, oder, wie weiter unten beschrieben, durch cyber-physische Systeme. Informationstechnologien beinhalten die Soft- und Hardware einer Organisation, um die organisationalen Ziele zu erreichen (Laudon & Laudon, 2016). Sie gelten als komplexer als Informationstechnologie. Sie sind eine Kombination von vernetzten Komponenten, die Informationen sammeln, verarbeiten, speichern oder auch verteilen, um Entscheidungen und Steuerung in Organisationen zu ermöglichen. Für den Unterschied zwischen Informationen und Daten siehe Kluge (1999).
Laudon und Laudon (2016) weisen darauf hin, dass auch digitale Organisationen sozio-technische Systeme sind und betonen, wie wichtig es auch hier ist, die Interaktion von Mensch und Informationstechnologie und -system ganzheitlich zu betrachten. So kann es manchmal nötig werden, ein technisch optimiertes System zu de-optimieren, um es für die Mitarbeiter/innen nutzbar zu machen. Digitale Anwendungen müssen an die Bedürfnisse der Mitarbeiter/innen angepasst werden.
Des Weiteren zeigten Arbeiten aus dem Bereich der Management-Informationssysteme ein »productivity paradox« (Dehning, Dow & Stratopoulos, 2003; Karr-Wisniewski & Lu, 2010), nämlich dass ein »Mehr« an Informationstechnologie zu keiner Zunahme der Produktivität führt, sondern sogar zu einer Abnahme (Klausegger et al., 2007). Denn es besteht die Gefahr eines Information Overload. Ähnlich den Beobachtungen von Trist (siehe vorne), dass neue Maschinen im Bergbau die Produktivität nicht erhöhten, kommt es auch bei MIS darauf an, die Menschen in die Gestaltung von technischen Lösungen einzubeziehen.
Das Thema ist demnach auch hier die »joint optimization« (Trist, 1981). Denn das soziale und das technische System sind auch in sozio-digitalen Unternehmen substantielle Faktoren. Ökonomische Leistung und Arbeitszufriedenheit sind auch hier die Ergebnisfaktoren, die je nach der Güte der Passung zwischen sozialem und technischem System variieren (Trist, 1981).
Zu den MIS gehören auch die sog. Enterprise Resource Planning Systems (ERP-Systeme), die Geschäftsprozesse der Fertigung/Produktion, der Finanzabteilung und Abrechnung, von Vertrieb und Marketing und Human Resource Management miteinander vernetzten und die in allen diesen Bereichen anfallenden Daten in einer Form und gemeinsam speichern, sodass diese von verschiedenen Bereichen eingesehen und genutzt werden können (Laudon & Laudon, 2016). ERP -gelten als integrierte Reihe von Programmen, die die Kernprozesse einer Organisation unterstützen (Aladwani, 2001).
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