»Und wo kam das Abendessen her?«
»Benedicte Johnstrup behauptet, Axel Holkenfeldt hätte für jeden eine Pizza mitgebracht. Die Spanier wären das Hotelessen angeblich leid gewesen und hätten keine Lust zu einem richtigen Abendessen gehabt.«
»Holkenfeldt? Der Kompagnon von Peter Münster-Smith?«
»Ja.« Pia nippte nur an ihrem Bier. Sie hatte Angst einzuschlafen, wenn sie zu schnell trank. »Das klingt doch eigenartig, oder?«
»Das muss ich zugeben.« Frank sah, dass der Kellner mit den Hacksteaks kam, und breitete seine Serviette über dem Schoß aus. Als der Kellner wieder verschwunden war, fügte er hinzu: »Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass jemand wie Axel Holkenfeldt in einer Pizzeria in der Schlange steht. Was hat er denn dazu gesagt?«
»Er erzählt dieselbe Geschichte. Nahezu wörtlich. Bis zu dem Detail, dass die Spanier das Restaurantessen leid gewesen wären. Und der Information, was jeder auf seiner Pizza hatte. Daran erinnern sie sich beide verblüffend genau.«
»Du meinst, es klingt wie eine abgesprochene Geschichte?«
»Na klar.« Pia steckte sich ein Stück Hacksteak mit Pickles und Meerrettich in den Mund. »Hm, lecker.«
»Absolut. Skål, Waage!«
Eine Weile aßen sie schweigend. Dann ergriff Frank Janssen wieder das Wort. »Aber das lässt sich ja überprüfen. Wir müssen mit den Spaniern reden. Und es dürfte ziemlich leicht sein, den Pizza-Mann zu finden. Axel Holkenfeldt müsste auch eine Rechnung vorweisen können, wenn wir ihm glauben sollen … Sollte es sich um eine Lügengeschichte handeln, ist sie jedenfalls ungewöhnlich dämlich.«
»So sehe ich das auch. Vermutlich nehmen sie an, dass wir ihnen einfach glauben und es nicht weiter überprüfen, wenn sie beide dasselbe erzählen.« Pia Waage trank einen Schluck Bier. »Ich kann mich natürlich auch irren. Vielleicht stimmt die Geschichte sogar und alles ist gut.«
»Gehen wir besser mal davon aus, dass sie das alles erfunden haben.«
»Das können wir vermutlich getrost tun.«
»Damit haben wir zwei Menschen, die dem Toten sehr nahestanden.«
»Ja.«
»Und die sich gegenseitig ein erfundenes Alibi geben.«
»Ja.«
»Und warum?«
Pia sah ihn an und wischte sich den Mund ab. »Dafür gibt es nur zwei Gründe. Entweder haben sie den Mord gemeinsam begangen und wollen sich gegenseitig schützen …«
»Nicht sonderlich wahrscheinlich, aber gut, es ist eine Möglichkeit. Und der andere Grund?«
»Der ganz banale.«
Frank nickte. »Sie waren vorgestern Abend zusammen, allerdings ohne spanische Investoren. Und der Anlass war nicht unbedingt professionell.«
»Genau.«
»Die Leute sind totale Idioten. Wieso verstricken sie sich in derart schwachsinnige Erklärungen? Es geht nur um Sex, zum Teufel, nicht um den Weltuntergang.«
Pia zuckte mit den Schultern. »Nicht alle teilen deinen nachsichtigen Blick auf Untreue, Janssen. Ich jedenfalls nicht. Und Holkenfeldt, Johnstrup und ihre Ehepartner offenbar auch nicht.«
Frank Janssen lächelte ein wenig abwesend. Er grübelte noch immer. »War Axel Holkenfeldt ebenfalls bei der Sitzung am Nachmittag?«
»Nein, nur Münster-Smith, die Kommunikationschefin und die beiden Vertreter von Shout.«
»Shout?«
»Der Werbeagentur.«
Frank wurde plötzlich blass. »Shout? Hast du deren Namen?«
»Nein. Holkenfeldts Sekretärin und ich sind in groben Zügen seinen Terminplan an diesem Tag durchgegangen. Ich wollte bei den einzelnen Punkten am Montag noch einmal nachhaken, wenn es sich als notwendig erweisen sollte.«
»Ich hoffe wirklich, ich irre mich«, sagte Frank und zog sein Smartphone aus der Tasche. Er googelte »Shout + Christianssund«. Als das Ergebnis auftauchte, ging er auf die Homepage der Agentur, fand die ultrakurze Liste der Kontaktpersonen – im Grunde gab es nur eine – und stöhnte laut auf. »Leider nicht«, sagte er dann und schob Pia Waage sein Mobiltelefon zu. »Sieh dir das an.«
»Was?«
»Schau mal, wem die Agentur gehört. Ich habe eine sehr starke Vermutung, wer einer der beiden anderen Sitzungsteilnehmer war …«
»Das gibt’s doch nicht.«
»Ja, das hat uns noch gefehlt.«
Benedicte Johnstrup hatte ihren Sohn endlich zum Einschlafen gebracht. Es war nicht einfach gewesen und hatte nahezu eine Stunde Vorlesen von Harry Potter gedauert. Anton verstand nicht, warum sein Vater noch immer nicht zu Hause war; er hatte sich in den Kopf gesetzt, dass es seine Schuld wäre. Bestimmt hatte er in dem kurzen Gespräch, in dem er und Martin verabredet hatten, abends Burger zu essen, irgendetwas Falsches gesagt. Anton war, so erklärte er es, mit seinem Computerspiel beschäftigt gewesen, als sein Vater anrief. Es könnte gut sein, dass er ein wenig kurz angebunden gewesen war. Vielleicht war Martin sauer über die mangelnde Begeisterung seines Sohnes für eine unerwartete Lieblingsmahlzeit.
Benedicte hatte ihren Sohn beruhigt, so gut es ging. Sie könne sich nicht vorstellen, hatte sie erwidert, dass Martin wegen solch einer Kleinigkeit beleidigt sei.
»Aber warum kommt er dann nicht nach Hause?«, hatte Anton zum fünften Mal gefragt. »Glaubst du, es ist ihm etwas passiert?«
»Ich weiß es nicht, Schatz. Wenn er einen Autounfall hatte oder plötzlich krank geworden wäre oder so … Dann würden wir es schon wissen.«
»Wie?«
»Dann hätten Polizisten oder Ärzte im Krankenhaus sein Portemonnaie mit unserer Adresse gefunden und uns längst angerufen, Anton.«
Sie wollte ihrem Sohn nicht erzählen, wie oft sie im Krankenhaus von Christianssund und in den Krankenhäusern Kopenhagens angerufen hatte. Oder wie beharrlich sie den Wachhabenden auf dem Polizeirevier gequält hatte, den Fall ernst zu nehmen.
»Und wenn ihn jemand gekidnappt hat?«
»Du siehst zu viele Horrorfilme, Schatz.« Benedicte hoffte, dass ihr Lachen entspannt klang. »Meinst du nicht, die Kidnapper hätten in diesem Fall angerufen und Lösegeld gefordert?«
»Vielleicht hat er sich so sehr gewehrt, dass sie ihn umgebracht haben. Dann brauchen sie ja nicht anzurufen.«
»Aber Anton! Jetzt geht die Fantasie wirklich mit dir durch.«
»Was glaubst du denn, was passiert ist?« Als ob sich in den zehn Minuten, seit er die Frage zuletzt gestellt hatte, irgendetwas geändert hätte.
»Vielleicht braucht Papa ein bisschen Zeit für sich selbst«, sagte sie wie beim letzten Mal. »Er wirkte in der letzten Zeit so müde.«
Anton überlegte eine Weile. Dann sah er sie an. »Habt ihr euch gestritten?«
»Nein, nein, mein Schatz«, beeilte Benedicte sich zu sagen, während sie spürte, wie eine Woge des schlechten Gewissens ihren Körper durchspülte. »Natürlich nicht. Ich glaube nur, dass er ein bisschen gestresst ist.«
Tatsächlich war das nicht einmal gelogen, tröstete sie sich. Martin wirkte seit Längerem merkwürdig resigniert. Wer weiß, ob er nicht doch einen Verdacht über ihr Verhältnis mit Axel hatte. Es war nicht unwahrscheinlich. Benedicte konnte ihre Gefühle noch nie gut verbergen, und es wäre merkwürdig, wenn er ihr verändertes Verhalten in der letzten Zeit nicht bemerkt hätte. Sie hatte plötzlich ungewöhnlich viele Abendtermine, saß häufig einfach nur da und starrte in die Luft, bekam ungewöhnlich viele Kurznachrichten, die sie hastig löschte, sobald sie sie gelesen hatte, und wies ihren Mann unter der Bettdecke immer öfter ab. Ja, er ahnte mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit, was vorging, und selbstverständlich hatte ihm das zugesetzt. Alles andere wäre auch eigenartig gewesen.
Am Nachmittag hatte sie Martins Praxishelferin Lieselotte angerufen, um sie zu bitten, alle Termine für die nächsten Tage abzusagen. Nach einem Moment des Zögerns fragte Benedicte sie, ob Martin in den letzten Wochen verändert gewirkt hätte. Hatte er Stress? War er reizbar? Unaufmerksam? Liselotte, so direkt befragt, räumte ein, dass das schon zutraf. »Aber sonst ist er ja der beste Chef, den man sich nur denken kann«, fügte sie hinzu. »Ich bin sicher, er ist bald wieder er selbst.«
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