»Ich denke, ich brauche jetzt etwas Süßes«, erwiderte Axel. »Ich habe es abgestellt«, er hielt das ausgeschaltete Telefon in die Höhe, »jetzt werden wir nicht mehr gestört.«
»Wer erbt eigentlich Peters Anteil?«, wollte Caroline wissen. »Er war doch nicht verheiratet, oder?«
»Die Juristen der Firma prüfen im Augenblick, wo wir stehen. Vermutlich werden Peters Geschwister seinen Anteil erben.«
»Kommst du mit ihnen klar?«
»Es ist viele Jahre her, seit ich sie zuletzt gesehen habe.« Axel schaute seine Frau an. »Seit Peters vierzigstem Geburtstag nicht mehr, oder?«
»Das kann sein«, sagte Julie. Sie behielt das Au-pair-Mädchen im Auge, das die Teller einsammelte. »Zu seinem Fünfzigsten sind sie jedenfalls nicht aufgetaucht.«
»Vielleicht waren sie gar nicht eingeladen«, vermutete Caroline.
»Das waren sie bestimmt«, erwiderte Axel. »Aber sie wohnen weit weg. Der Bruder in Südafrika, die Schwester in London. Vielleicht war es ihnen das Ticket nicht wert.«
»Wenn der Bruder fünfzig wird?« Caroline schüttelte den Kopf. »Die müssen ja echt merkwürdig sein.«
»Das hoffe ich nicht. Wenn wir auch weiterhin Partner sein wollen, meine ich.«
»Danke, Mai«, sagte Julie zu dem Au-pair-Mädchen, das einen Stapel Platten und Teller zur Tür balancierte. Dann sah sie wieder ihren Mann an. »Das wird sicher nicht einfach.«
Axel leerte sein Glas und schenkte allen noch etwas Rotwein nach.
»Was macht Ihre Firma eigentlich genau?«, erkundigte sich Emil.
»Wir bauen Häuser«, erklärte Axel. »Sowohl in Dänemark als auch im Ausland. Außerdem kaufen wir alte Gebäude und renovieren sie.«
»Wie zum Beispiel das Sundværket«, warf Caroline ein. »Das kennst du doch, Emil.«
Natürlich kannte er das Sundværket. Einst war es eine der größten Werften Dänemarks gewesen. Die Gebäude lagen auf einer künstlichen Insel, die durch eine Brücke mit Christianssund verbunden war. Als die Werft in Konkurs ging, standen Lagergebäude, Werfthallen und Büroräume einige Jahre leer, bis Petax Entreprise den gesamten Komplex mit einer außergewöhnlichen Garantiesumme der Stadt aufkaufte und renovierte. Die instand gesetzten Gebäude wurden an Werbeagenturen, Architekten oder Designer verkauft oder vermietet. Auf dem östlichen Teil der Insel ließ Petax Entreprise ein exklusives Wohngebiet entstehen, in dem sich Ladengeschäfte und Cafés angesiedelt hatten. Die größte und schönste aller Wohnungen am Sundværket war natürlich das Penthouse von Peter Münster-Smith in der obersten Etage eines Hochhauses. Aber niemand aus der Familie Holkenfeldt wollte Emil jetzt davon erzählen.
»Und dann ist da noch unser neuer Hauptsitz an der Kingos Allé«, fuhr Axel fort. »Ein Palais aus dem achtzehnten Jahrhundert, das unter Denkmalschutz steht. Der reichste Kaufmann von Christianssund hat früher darin gewohnt. Es ist ganz unbeschreiblich. Das musst du dir mal von Caroline zeigen lassen, Emil. Wir sind fast fertig mit der Renovierung.«
»Wahrscheinlich gebt ihr doch bald eine Housewarming-Party?«, fragte Julie.
»Na ja, ob wir das machen, jetzt, wo Peter …« Axel hielt inne. »Abgesehen davon, muss das Hinterhaus noch fertig werden. Im Augenblick sitzen wir noch sehr gedrängt.«
Du könntest deine Frau zumindest einmal wieder auf einen Rundgang durch das Gebäude einladen, dachte Julie. Schließlich wäre dein ganzes feines Imperium ohne mich niemals so groß geworden. Aber das vergisst du ja gern. Sie sah ihren Mann an, der das Glas Rotwein bereits ausgetrunken hatte, das er sich erst vor wenigen Minuten eingeschenkt hatte. Heute Abend würde er sich wieder betrinken. Ich bin diese Trinkerei so leid, dachte sie. Aber auch das sagte sie nicht laut.
Mai teilte kleine Teller aus und servierte den Nachtisch, einen Blaubeer-Käsekuchen von dem guten Bäcker in der Algade. »Kaffee?«, fragte sie und sah Julie an.
»Ja danke.« Julie schnitt ein Stück Kuchen ab und reichte es Emil.
»Ich liebe Käsekuchen«, erklärte er. Seine Krawatte hatte sich im Laufe des Abends gelockert, nun saß sie schief. Julie hatte größte Lust, sie zu richten, aber so etwas tat man nicht.
»Nur ein kleines Stück bitte, Mama.« Caroline machte eine ihrer zahllosen Schlankheitskuren, obwohl niemand außer ihr auch nur ein einziges überflüssiges Gramm an ihr finden konnte.
Julie musste Axel nicht fragen, ob er Kuchen wollte. Er hielt ihr bereits seinen Teller hin, und sie kannte ihren Mann gut genug, um ihm ein ordentliches Dreieck abzuschneiden.
Doch auch zum Nachtisch blieb das Abendessen unerträglich. Emil kam immer wieder auf den Fund von Peters Leiche zurück. Er hatte alle möglichen Theorien und Meinungen und fragte seine Gastgeber schamlos aus. Axel antwortete so höflich er konnte, aber Julie sah, wie sehr er sich zusammennehmen musste, um dem sensationslüsternen jungen Mann nicht die Zähne einzuschlagen. Caroline schien nichts zu bemerken. Sie sah Emil an, als sei er das achte Weltwunder und seine nicht sonderlich durchdachten Bemerkungen Ausdruck eines ungemein überlegenen Intellekts.
Nach dem Abendessen gingen die beiden Jugendlichen in den Billardkeller. Sie luden das Gastgeberehepaar höflich ein mitzukommen, konnten ihre Erleichterung aber nur schwer verbergen, als weder Axel noch Julie Lust hatten, Poolbillard zu spielen.
»Vielen Dank für das Abendessen«, sagte Axel und erhob sich.
»Nichts zu danken«, erwiderte Julie und sah ihm nach, als er durch die Tür verschwand. »Gern geschehen … Liebster«, fügte sie so leise hinzu, dass nur sie selbst es hörte.
Pia Waage hängte das letzte Foto neben die anderen, trat einen Schritt zurück und gähnte laut. Es war bald einundzwanzig Uhr, und sie war seit sieben auf den Beinen. Wenn ich nicht bald engen Kontakt zu meiner Bettdecke bekomme, werde ich ohnmächtig, dachte sie und ließ sich auf einen Stuhl fallen.
Ihr Kollege, der Polizeiassistent Svend Gerner, gähnte ebenfalls. Zusammen mit seinem neuen Partner Thor Bentzen und ein paar anderen Beamten hatte er die langwierige und zähe Arbeit übernommen, mit allen Mitarbeitern von Petax Entreprise zu sprechen. Jetzt zog er sich seinen Mantel an und band sich den Schal um. »Wann sehen wir uns morgen?«
»Um acht«, antwortete Frank Janssen, der ihm den Rücken zuwandte. Er hatte sich vor die Tafel gestellt, um sich die makabren Fotos anzusehen.
»Ist es okay, wenn ich jetzt gehe?«
»Ist euer Bericht fertig?«
»Hier ist die Zusammenfassung.« Gerner zeigte auf eine Klarsichthülle.
Frank riss sich von den Fotos los und griff nach der Hülle. »Irgendetwas Interessantes?«
»Steht alles da drin.«
»Seid ihr zum Beispiel auf eine Mitarbeiterin mit dem Vornamen Sara gestoßen?«
»Nope.« Gerner zog Handschuhe an. »Ich habe auch den Bericht des Hundeführers beigelegt. Sie haben nichts gefunden.«
»Nichts in dem Container?«
»Er hat ihn selbst überprüft, weil er sich nicht traute, den Hund hineinzusetzen. Es lagen Glas und rostige Nägel darin. Aber er hat den Hund die Umgebung absuchen lassen, und der Hund hat zu keinem Zeitpunkt angeschlagen.« Wieder gähnte Gerner. »Entschuldigung. Ich muss wirklich ins Bett.«
»Dann bis morgen.«
In den nächsten Minuten war es still in dem großen Gemeinschaftsbüro, das als Besprechungsraum des Teams diente. Frank überflog den Bericht, während Pia mehr in einem Sessel lag als saß. Ihr Blick hing an den Farbfotos der Anschlagtafel. Bilder des Tores zur Kingos Allé, des Hofplatzes mit dem Halbdach für Fahrräder, dem rostigen Container und der Tür zum Hinterhaus. Fotos des Treppenhauses und der Tür zur zweiten Etage.
Ein Bild zeigte die Überwachungskamera, die am Tor des Gebäudes angebracht war. Unglücklicherweise waren weder sie noch die anderen Kameras an diesem Abend eingeschaltet, das Sicherheitssystem war wegen der Umbauten nicht in Betrieb. Mist, dachte Pia. Nur eine einzige Aufnahme in einigermaßen brauchbarer Qualität hätte möglicherweise sofort zur Lösung des Falls geführt, doch so viel Glück hatten sie leider nicht.
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