»Stimmt gar nicht«, sagte Lars, der an diesem Morgen einer der ersten vor Ort gewesen war. »Der eine Typ, der war genau da, wo’s geknallt hat. Oder, Clemens?«
Sein Partner nickte. »Hat am Anfang noch vor sich hingebrabbelt. Sowas wie ›Das hätte nicht passieren dürfen‹.«
Tim nickte. »Ja, den haben wir später versorgt. Sah ziemlich finster aus.«
»Hat er euch denn überlebt?«
»Knapp. Ist als einer der ersten nach Boberg.«
»Da hatte er Glück. Die Verbrennungsbetten dürften in Nullkommanichts ausverkauft gewesen sein.«
Tim schnaubte. »Wer die Betten braucht, hatte per Definition kein Glück.«
»Aber er hat eine Chance.«
Tim schwieg.
»Hab ich schon wieder was Falsches gesagt?«
»Was hat der Mann mit ›Das hätte nicht passieren dürfen‹ gemeint?«
»Ist doch egal. Der war völlig durch den Wind. Keine Ahnung, was ich in so einer Situation sagen würde.«
»Du würdest wahrscheinlich Mark einen Heiratsantrag machen.«
Alle lachten, und Tim mit ihnen. Jetzt war nicht die Zeit zum Grübeln. Aber es nagte an ihm. Irgendetwas passte nicht, doch er kam nicht darauf, was.
In der Moschee waren sie nicht. Nicht im Gebetsraum, nicht in den Gemeinschaftsräumen, nicht im Waschraum.
Nervös streifte er durch die Gänge, öffnete jede Tür, sah in jedem Raum nach. Der Imam grüßte ihn, er grüßte flüchtig zurück, den Blick schon wieder woanders. Keiner von ihnen war da. Hatten sie ihn im Stich gelassen? Hatten sie ihn die Drecksarbeit machen lassen und waren dann verschwunden?
Es war Zeit für das Nachmittagsgebet. Er wünschte sich die Nähe des Barmherzigen. Also wusch er sich, ging in den Gebetsraum, richtete sich nach Mekka aus und hob die Hände. »Allahu akbar …«
Er betete, wie es vorgeschrieben war, aber sein Herz und seine Gedanken waren nicht bei der Sache. Die Erleichterung und die Ruhe im Geist, die er sich vom Gebet erhofft hatte, stellten sich nicht ein. Wie auch? Warum sollte Allah einem Sünder wie ihm Frieden schenken? Einem Mann, der all die getötet hatte, die ihm vom Höchsten zum Schutz befohlen waren – die eigene Familie?
Oder prüfte Allah ihn? Stellte er seine Glaubensfestigkeit auf die Probe mit dem höchsten Opfer, das ein Mann seinem Gott darbringen konnte? War es gar gerechtfertigt, die Familie zu opfern, um möglichst vielen Ungläubigen den Tod zu bringen? Hatte er sie Allahs Gnade als Märtyrer anempfohlen und ihnen einen Platz im Paradies verschafft?
Seine Brüder würden Rat wissen. Wo waren sie?
Er ging vor die Tür, suchte sich eine unbeobachtete Ecke und zog das Smartphone heraus. Zwar war es verboten, andere Mitglieder der Gruppe anzurufen – zu groß die Gefahr, dass eines ihrer Telefone den Ungläubigen in die Hände fiel –, aber das war ihm egal. Er musste Gewissheit haben.
Es klingelte und klingelte, dann sprang die Mailbox an und erklärte mit elektronischer Stimme, der Teilnehmer sei zurzeit nicht erreichbar. Er versuchte es ein zweites und drittes Mal, bevor er es aufgab. Eine Nachricht hinterließ er nicht.
Frustriert steckte er das Smartphone weg und machte sich auf den Heimweg. Er war noch nicht weit gekommen, als es in seiner Tasche vibrierte. Der verschlüsselte Messenger, mit dem sie kommunizierten, zeigte eine neue Nachricht an. Hastig öffnete er sie.
»Nicht anrufen«, stand dort, darunter eine Adresse, die er nicht kannte, und eine Uhrzeit.
Eine Stunde. Dann würde sich alles aufklären.
Sein Blick fiel auf die Benachrichtigungsleiste. Ein Anruf in Abwesenheit.
Er tippte auf die Nachricht, die Nummer wurde angezeigt, und seine Welt drehte sich schlagartig in eine andere Richtung.
Es war die Nummer seiner Schwester.
21. Mai
»Da«, sagte Harald, »Nummer 15. Fahr rechts ran.«
Es war später Vormittag und die meisten Anwohner waren bei der Arbeit. Die Erwerbslosenquote war hoch in Wilhelmsburg, aber es blieben genügend automobile Arbeitnehmer, um bequem einen freien Parkplatz in der Nähe des Hauses zu finden.
Marie und Harald stiegen aus dem BMW und gingen zum Eingang eines der typisch hamburgischen Wohnblöcke, vierstöckig und dunkelrot verklinkert. Auf der anderen Straßenseite standen keine Häuser, hier erhob sich sieben oder acht Meter hoch der Elbdeich.
Marie überlegte, ob man vom oberen Geschoss der Häuser aus das Wasser sehen konnte. Anderswo in Hamburg würde man für diese Lage am Ufer der Elbe horrende Mieten bezahlen, aber nicht hier auf der Veddel, einem der klassischen Arbeiterviertel Hamburgs. Noch nicht. Es war nur eine Frage der Zeit, bevor gewiefte Immobilienspekulanten die Häuser aufkauften, grundsanierten und die alteingesessenen Multikulti-Einwohner gegen schicke junge Leute austauschten, die es hip fanden, in ein heruntergekommenes Viertel zu ziehen. Natürlich in Luxuswohnungen. »Gentrifizierung« hieß das, wenn sie sich recht erinnerte. Ein Prozess, der schon einige Stadtviertel vom authentischen Kiez zur Yuppie-Hochburg verwandelt hatte: Sankt Pauli, die Schanze, Ottensen … Lange würde es nicht mehr dauern, bis Wilhelmsburg dran war. Ging vielleicht schon los, wer weiß.
Harald studierte die Klingeltafel. »Kabaoglu, hier. Mann, haben die eine Sauklaue!« Er drückte den Knopf, und sie hörten weiter oben eine altmodische Türklingel schnarren.
Marie lehnte sich gegen die Tür und wartete auf den Summer.
Stattdessen wurde über ihnen ein Fenster geöffnet. »Ja bitte?«, fragte eine jung klingende Frauenstimme.
Sie traten einige Schritte zurück und blinzelten nach oben. Eine dunkelhaarige Frau Mitte 20 lehnte aus dem Fenster im zweiten Stock.
»Guten Tag, mein Name ist Marie Schwartz, und das ist mein Kollege Harald Grossmann. Können wir bitte Frau Kabaoglu sprechen?«
»Sind Sie Journalisten?«
»Nein.« Marie hielt ihre Dienstmarke hoch. Sie wollte vermeiden, das Wort »Polizei« laut nach oben zu rufen. Das brachte nur unerwünschte Aufmerksamkeit, speziell in Vierteln wie diesem.
Die junge Frau im Fenster nickte. »Kommen Sie rein, die Tür ist nicht verschlossen. Zweiter Stock links.«
Im Treppenhaus roch es nach Kohl, feuchten Wänden und exotischen Gewürzen. Der Handlauf war abgegriffen, die Wände schmutzig und von den Fenstern blätterte die Farbe ab. Umso überraschter war Marie, als die junge Frau die Wohnungstür öffnete und sie in ein blitzsauberes, wenn auch kitschiges Wohnparadies einließ. Auf den alten Bodendielen lagen kunstvoll geknüpfte orientalische Teppiche, die Wände waren mit einer dicken Stofftapete versehen, die obendrein glitzerte. Davor hingen Bilderrahmen mit Familienfotos und ein Spiegel mit einem breiten goldenen Rand in nachgemachtem Barockstil.
Aus dem Wohnzimmer klang ein aufgeregtes Durcheinander von Frauenstimmen bis in den Flur. »Haben Sie Besuch?«, fragte Marie.
Die junge Frau nickte und lächelte flüchtig. »Das sind Trauergäste«, sagte sie in akzentfreiem Deutsch. »Sie waren noch bei keinem türkischen Trauerfall, oder?« Sie war ausgesprochen hübsch, mit einem schwarzen Pferdeschwanz, hohen Wangenknochen und mandelförmigen dunklen Augen, denen man ansah, dass sie geweint hatte.
Marie lächelte verlegen. »Da haben Sie recht. Bitte verzeihen Sie uns, wenn wir uns mit Ihren Bräuchen nicht gut auskennen.«
Die junge Frau winkte ab. »Sie sind von der Polizei?«
»Ja«, sagte Marie und hielt ihr den Dienstausweis hin. »Ich bin Kriminaloberkommissarin Marie Schwartz, das ist Kriminalhauptkommissar Harald Grossmann. Dürfte ich fragen, wer Sie sind?«
»Şahika Kabaoglu. Mein Vater …« Sie schluckte schwer. »Entschuldigen Sie.« Sie zog ein Taschentuch aus der Jeans und putzte sich die Nase.
Marie nickte ihr freundlich zu. »Da gibt es nichts zu entschuldigen. Ihr Verlust tut mir sehr leid.« Sie hasste das Wort »Beileid« und die ganzen abgedroschenen Phrasen, aber sie wusste, dass alles, was sie sagte, lahm klingen musste.
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