Zunächst tätig als Lehrer in Minden und Marburg, übernahm er bald eine gutbezahlte Hauslehrerstelle bei einer russischen Adelsfamilie, um deren Sohn er sich in Genf und Aachen kümmerte – mit dem absurden Abschluss, dass sich sein Schüler bei einem Ehrenhandel erschießt. Er hielt erste Vorlesungen an den dortigen Universitäten, vertiefte sich in die heiligen Schriften Indiens und korrespondierte mit Nietzsche, der, sensationell früh in Basel zum Professor ernannt, ihn immer wieder provozierte, ihm etwa »Bauernstolz« vorwarf und ihn einen gelehrten »Kleinkrämer« nannte.
»Ekam sad vipra bahudha vadanti« (Rigveda I, 146, 46) »Die Wahrheit ist eine einzige, die Gelehrten erklären sie auf vielfältige Weise«. Deussen übersetzt: »Vielfach benennen, was nur eins, die Dichter.«
Wenige Jahre später sprach Nietzsche von dem »ersten wirklichen Kenner der indischen Philosophie in Europa, meinem Freunde Paul Deussen.« Der hatte sich 1881 in Berlin mit dem Werk Das System des Vedanta habilitiert, die 19 Jahre jüngere Marie Volkmar geheiratet und war schließlich Professor für Philosophie in Kiel geworden, wo er, zuletzt halberblindet, bis zu seinem Tode am 6. Juli 1919 als international geschätzter Denker wirkte, der erste Universitätsphilosoph überhaupt, der in Wort und Schrift die altindische Gelehrtensprache, das Sanskrit, beherrschte, und dies in einer brahmanischen Priestern ebenbürtigen Kompetenz. Der Hindu-Heilige Vivekananda, ein Schüler Ramakrishnas, hat ihn in Kiel besucht.
Ornament von Ernst Schneidler. Aus: Die altindische Philosophie nach den Grundworten der Upanishads. übersetzt von Paul Deussen. Jena 1914
Von hier aus machte er immer wieder weite Reisen, anfangs auch mit seiner Frau. So suchten sie Friedrich Nietzsche in seinem Schweizer Bergnest Sils-Maria auf; der Freund war von der jüdisch-melancholischen Schönheit Mariechens beeindruckt. 1891/92 unternahmen sie eine halbjährige Indienreise, wo ihm die hohe Ehrung der Umgürtung mit der heiligen Opferschnur der Brahmanen zuteil wurde und die sanskritische Form seines Namens: Devasena. Am liebsten aber fuhr Deussen nach Rom zu seiner Freundin Henriette Hertz, einer Kunstmäzenin – wie seine Frau deutsch-jüdischer Herkunft –, die 1912 an der Via Gregorina ein bedeutendes kunsthistorisches Institut gründete, die »Bibliotheca Hertziana«. Mehrfach kam er auch zurück in sein Heimatdorf. Hatte schon Nietzsche in einem Brief an seine Schwester Elisabeth gefragt: »Willst Du nicht einmal Oberdreis ansehn?«, so ist diese Frage heute um so berechtigter, zumal sich hier, gleich neben der evangelischen Kirche, Deussens Elternhaus und Grabstätte befinden.
Falls Sie auf Deussen neugierig geworden sind: Fangen Sie mit dem ersten Band seiner Philosophiegeschichte an, der Sie behutsam, vom bekannten Denken des Westens ausgehend, ins Indische führt. Lesen Sie in Ergänzung meiner Biographie Deussens eigene Erinnerungen an Friedrich Nietzsche, beschaffen Sie sich seine Elemente der Metaphysik, deren wunderbare Schluss-Sätze an Kant gemahnen, an dessen Aussage vom bestirnten Himmel über mir und dem moralischen Gesetz in mir. Und falls Sie ein Faible haben für das fernöstlich Meditative, vielleicht angeregt durch eigene Yoga-Übungen, so nehmen Sie seine weltberühmte Upanishaden-übersetzung zur Hand. Paul Deussen, durchaus klischeehaft sich vorzustellen als wilhelminischer Professor mit Schlapphut und Gehrock, weißem Bart und Goldbrille: ein Geistessouverän, alle Barbarei und Gewalttätigkeit verabscheuend, also auch den Ersten Weltkrieg: ein Pionier als übersetzer heiliger Hindu-Schriften, ein global philosopher, dessen Stimme im heutigen interreligiösen Diskurs weiterhin Gehör verdient. Sein Werk war z. B. für Hesse, Gandhi, Max Beckmann, Jorge Luis Borges oder Erwin Schrödinger Quelle und Anregung. Ja, es ist ungemein lohnenswert, sich mit dem Denk- und Lebensweg dieses Westerwälders zu beschäftigen, der, vom Dorfe kommend, auszog, im Weltdorf die metaphysische Vielfalt zu studieren, beseelt von der Ahnung ihrer geheimen Einheit, bestrebt, nationale und religiöse Enge zu überwinden.
HF
E i n e n Nutzen wird das allgemeinere Bekanntwerden der indischen Weltanschauung doch haben, diesen nämlich: uns zum Bewußtsein zu bringen, daß wir mit unserm gesamten religiösen und philosophischen Denken in einer kolossalen Einseitigkeit stecken, und daß es noch eine ganz andere Art, die Dinge anzufassen, geben kann.
Paul Deussen
Denken mit Deussen
Die schöne Ruhe in den Deussen-Schriften, der seine Gedanken am liebsten laut vortrug, vor großem Publikum. Bei Nietzsche hat man in aller Lesestille den Eindruck, angeschrien zu werden.
Der Tod schien ergeben gewartet zu haben, bis Deussen mit seiner Philosophiegeschichte von den Ursprüngen übers Mittelalter in der Neuzeit, vom Orient wieder im heimischen Okzident angelangt war.
Die verblüffende Ähnlichkeit des Steinblocks bei Surlej im Engadin, wo Nietzsche 1881 sein mystisches Erlebnis der Ewigen Wiederkunft hatte, mit dem Beilstein bei Oberdreis im Westerwald, in dessen Nähe dem jungen Deussen 1868 urplötzlich das unwandelbare Eine im Schein der Vielheit aufleuchtete. Deussens Basaltbrocken, Nietzsches Granitfels – »große, leise sprechende Natur«.
Neben dem Beilstein gibt es in Oberdreis ein zweites Naturdenkmal: eine uralte Eibe. Auch Nietzsche wird sie bei seinem Aufenthalt in Oberdreis gesehen haben. Seither ist im Ort die Redewendung geläufig: Wenn du zur Eibe gehst, vergiß den Nietzsche nicht.
Nietzsche, der Un-Freund, der fortwährend Bedingungen stellte. Deussen war im Grunde mit allen Menschen gut Freund, nur mit einem nicht, mit Nietzsche. Nietzsche gekannt, erduldet, überstanden zu haben – eine Lebensleistung an sich.
Deussens Fahrt in Eilzügen durch Indiens Nächte, als trüge es ihn beinahe schon außerhalb von Raum und Zeit an das Ziel der immerwährenden Wahrheit; die moderne Beschleunigung als metaphysische Hilfe, und keine Pferde-, Kuh-, Elefantenstärke.
Immer wieder lugt aus den Schriften Deussens der lustige Paul hervor, so wenn er im Index die Heiligen Wahrheiten zwischen Hasenhorn und Heuhund plaziert, Frauen, mehrere erlaubt, die Tänzerin weit, weit vor dem Tod auftreten läßt, dann aber festhält: Weiber ausgeschlossen.
… »etwas so völlig Sinnloses und daher gerade besonders Geeignetes wie die Silbe Om …«
Aus: Heiner Feldhoff, Paul Deussen und ich, Nachträge aus Oberdreis. 2011
Karl Wilhelm Diefenbach, 1851-1913, Künstler und Lebensreformer, Hadamar
Der malende Messias
Er war ein charismatischer Mensch, der niemanden kalt ließ, der ihm begegnete. Die einen verehrten ihn als visionären Maler und Messias einer Naturreligion, die anderen verhöhnten ihn als Kohlrabi-Apostel. Das Leben des Künstlers Diefenbach war ein ständiger Kampf mit der erstarrten Bürgerlichkeit der Jahrhundertwende, mit seinen widersprüchlichen Triebkräften und seinen vielen Krankheiten.
In Hadamar, am Rande des südlichen Westerwalds, wird er am 21. Februar 1851 in eine arme, sehr religiöse Familie hineingeboren. Vom Vater, Zeichenlehrer am Gymnasium, erbt er die künstlerische Begabung, aber auch die Anfälligkeit für Krankheiten. Und die fürsorgliche Mutter hinterlässt ihm seine lebenslange Sehnsucht nach einer hingebungsvollen Frau, die »wie Wachs mich umfließt«. Vom Wunsch beseelt, Maler zu werden, bricht er die Schule ab, schlägt sich als Gehilfe eines Fotografen durch, bis er es an die Kunstakademie in München schafft. Als seine Eltern 1875 kurz hintereinander sterben und er in lähmende Trauer verfällt, kritisiert ihn der Herzog von Nassau, der sein begabtes Landeskind mit Aufträgen und Stipendien fördert, er solle sich mehr um seine Entwicklung als Künstler sorgen. Stolz antwortet Diefenbach: »Hoheit, meine Aufgabe ist es in erster Linie, Mensch zu sein.«
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