»Auch wenn ich eindeutig links von den meisten Wirtschaftswissenschaftlern stehe (einschließlich vieler, die sich selbst als heterodox bezeichnen würden), bin ich gerne bereit, mich mit dem dominierenden Forschungsprogramm der Disziplin zu identifizieren. Der erste Grund dafür ist einer der persönlichen/politischen Strategie. Ausgehend von, grob gesagt, sozialdemokratischen Annahmen darüber, wie die Welt funktioniert, versuche ich Maßnahmen im Interesse der Gesellschaft im Allgemeinen und der Arbeiterklasse und den Benachteiligten im Besonderen zu bestimmten und fördern. Die etablierte Wirtschaftswissenschaft bietet eine Reihe von Werkzeugen für die Analyse (Theorie öffentlicher Güter, Externalität und Marktversagen, Steuerpolitik und Einkommensverteilung) und eine weithin verständliche Sprache für die Formulierung der Resultate. Keines der alternativen Gedankengebäude in der Wirtschaftswissenschaft kommt auch nur in die Nähe dessen.
Indem sie die logischen Grundlagen dieses einfachen Modells angreifen, mögen heterodoxe Ökonomen das Vertrauen in die daraus abgeleiteten politischen Maßnahmen untergraben. Aber das führt nicht besonders weit. Selbst wenn man die ökonomischen Argumente für Laissez-faire für wertlos hält, ergibt sich daraus noch keine positive Begründung einer anderen Politik.
Allgemein halte ich den gesamten Gedanken von Orthodoxie und Heterodoxie, oder die damit verbundene Vorstellung von Denkschulen, für wenig hilfreich. Er scheint mir eine Art intellektuellen Ahnenkult zu implizieren, mit dem niemandem gedient ist. Er führt weitgehend sinnlose Debatten darüber, was Keynes oder Commons oder Hayek wirklich gedacht haben. Waren ihre Gedanken wertvoll, dann werden sie in den meisten Fällen zumindest von manchen Vertretern der etablierten Lehre aufgegriffen worden sein, und die Rekonstruktion ihrer geistigen Abstammung ist bestenfalls von sekundärem Interesse.
Entsprechend meine ich, dass man die meisten üblichen Einwände gegen schlichte Varianten der Wirtschaftswissenschaft berücksichtigen kann, ohne gleich das ganze System zu verwerfen und bei null anzufangen. Wer an den vollkommen rationalen Homo oeconomicus nicht glaubt, der findet zahllose Arbeiten über Verhaltensökonomik, begrenzte Rationalität, Altruismus etc. Wem schlichte Wettbewerbsmodelle nicht zusagen, dem stehen ganze Regale voller Bücher über strategisches Verhalten und Spieltheorie zur Verfügung.«19
Wenn auch sicher unbeabsichtigt, kommt dies Margaret Thatchers »There is no alternative« gefährlich nahe. Die Behauptung, ernsthafte theoretische Arbeit jenseits der ausgetretenen, von den etablierten Disziplinen sanktionierten Pfade sei im politischen Handgemenge oft wirkungslos geblieben, ist ein beträchtliches Hindernis, wenn wir das Versagen der Linken in der gegenwärtigen Krise begreifen wollen. Quiggins Buch illustriert das beunruhigende Problem, wie schwierig ihm, ja jedem Kritiker innerhalb der Orthodoxie, der Nachweis fällt, dass er nicht bereits selbst mit dem Zombie-Virus infiziert ist (ein klassisches Problem in Zombie-Filmen). Auch wenn er immer wieder signalisiert, dass ihm bewusst ist, wie die neoklassische Lehre die Befreiung aus dem Sumpf des Zombie-Denkens vereitelt, kann er den Gedanken, dass man sich zur Überwindung logischer Inkohärenz von ihr verabschieden muss, nicht wirklich gelten lassen. Infolgedessen widerspricht er sich allenthalben und betrachtet dies notgedrungen auch noch als Vorzug. Das ist selbst ein unschönes Symptom von Zombie-Denken, das sich quer durch das Spektrum der »seriösen Linken« in der Wirtschaftswissenschaft findet, von Paul Krugman über Joseph Stiglitz, Adair Turner und Amartya Sen bis zu Simon Johnson. Krugman fühlt sich seines Status sicher genug, um diesen Defekt offen zuzugeben:
»Die Art von Wirtschaftswissenschaft, die ich in meiner täglichen Arbeit anwende – und die ich noch immer als den bei Weitem vernünftigsten Ansatz betrachte –, wurde maßgeblich von Paul Samuelson begründet, als er 1948 die erste Ausgabe seines klassischen Lehrbuchs veröffentlichte. Dieser Ansatz verbindet die große Tradition der Mikroökonomie, die betont, wie die unsichtbare Hand in der Regel wünschenswerte Ergebnisse zeitigt, mit keynesianischer Makroökonomie, die betont, dass die Wirtschaft Zündschwierigkeiten haben kann und politischer Eingriffe bedarf. Samuelsons Synthese zufolge muss man auf den Staat zählen, um weitgehende Vollbeschäftigung zu gewährleisten; erst sobald dies als gegeben betrachtet werden kann, treten die üblichen Vorzüge freier Märkte hervor.
Dieser Ansatz ist sehr vernünftig – aber auch theoretisch prekär. Denn er erfordert eine gewisse strategische Inkonsistenz im Verständnis der Wirtschaft. Auf der Mikroebene unterstellt man rationale Individuen und sich schnell ausgleichende Märkte; auf der Makroebene sind Reibungen und verhaltenstheoretische Ad-hoc-Annahmen wesentlich. Na und? Inkonsistenz auf der Suche nach praktischer Orientierung ist keine Schande.«20
Ich behaupte nicht, dass man niemals zugleich A und Nicht-A annehmen darf. Krugmans Position enthält ein Körnchen Wahrheit: Die Quantenmechanik zum Beispiel galt im Lauf ihrer Geschichte als unvereinbar mit der klassischen Mechanik und mit Makrotheorien wie der der Relativität. Eine Wissenschaft wie die Physik kann eine Weile mit begrifflicher Schizophrenie funktionieren, die mitunter sogar eine notwendige Voraussetzung dafür ist, ihre verborgenen Widersprüche vollständig zu begreifen. Die Geschichte der Neoklassik unterscheidet sich davon allerdings insofern, als andere Disziplinen gewöhnlich nicht einen Bannfluch über Wissenschaftler verhängen, die auf solche Inkonsistenzen hinweisen und nach ihrer Bedeutung fragen, oder zwecks Wahrung der Reinheit der Lehre kurzerhand die Verfechter des einen Pols ausschließen, wie mit den Theoretikern der rationalen Erwartungen und ihren Epigonen geschehen.
Während des Kalten Krieges nahm die Pluralität in der Wirtschaftswissenschaft ab, doch zur Wahrung des ideologischen Scheins wurde konkurrierenden Lehren nicht mit völliger Intoleranz begegnet. Es finden sich zum Beispiel im Nachlass Paul Samuelsons Belege dafür, dass er tatsächlich Joan Robinson für den Nobelpreis der Schwedischen Reichsbank vorschlug.21 Erst nach dem Fall der Berliner Mauer verschärfte sich, aus ebenso offenkundigen politischen Gründen, der Konformitätszwang erheblich, um in der Zeit der Immobilienblase schließlich seinen Höhepunkt zu erreichen. Nach der Jahrtausendwende kam eine höchst merkwürdige Literatur auf, der zufolge eine neoklassische Lehre insofern gar nicht mehr existierte, als die legitimen Vertreter der Orthodoxie jede nur denkbare analytische Abweichung vom strikten Walras-Gleichgewichtsmodell geprüft und irgendwer, irgendwo, irgendwann ein formales Modell zur Berücksichtigung der vormals heterodoxen Anliegen konstruiert habe.22 Rationalität? Wozu? Gleichgewicht? Brauchen wir gar nicht! Maximierung? Können wir umgehen! Persönliche Gier? Lesen Sie einfach Amartya Sen! Angebot und Nachfrage? Damit füttert man nur mathematisch ungebildete Leute, die die neueste Interpretation der Sonnenschein-Mantel-Debreu-Theoreme nicht verstehen! Blasen? Haben wir, heiß, schaumig und rational. Komplexität? Wie viel darf’s sein? Nennen Sie etwas, das Ihnen nicht behagt, und wir bieten Ihnen ein nicht-ganz-so-neues Modell (und vielleicht eine theoretische Brücke) an. Allein, die ganze vorgebliche Aufgeschlossenheit, Toleranz und Berücksichtigung sämtlicher Bedenken ging weltweit damit einher, dass die letzten Überreste heterodoxer Wirtschaftswissenschaft an den Spitzenuniversitäten offen angegriffen und exkommuniziert wurden und die führenden Fachzeitschriften noch mehr Linientreue verlangten. Theoriegeschichte wurde verbannt, die verstreuten Ghettos heterodoxen Denkens wurden kurzerhand eingeebnet. Auch in Europa bezwang man die Abweichler energisch. Die Betroffenen erlebten diesen Widerspruch aus qualvoller Nähe.
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