Während Antoine munter und voller Leidenschaft singt, tragen die beiden Roger an den Rand des Bootes und lassen den Verräter schon mal etwas Meerwasser schnuppern.
»Nein! Nein! Bitte! Ich sage niemandem etwas, wenn ihr mich gehen lasst!«, beschwört uns dieser.
»Vergiss es, Pussycat«, gähnt Mathéo gelangweilt und der Geruch von Urin steigt mir in die Nase.
Alain zeigt lachend auf Rogers Jeans. »Ha! Der Penner hat sich eingepisst.«
Antoine stoppt seinen herrlichen Gesang und verzieht das Gesicht. Dann schaut er zornig an Roger herab. »Was? Ich singe und du pisst dich ein? Gefällt dir mein Gesang etwa nicht?! Frechheit. Komm, du Bettnässer, geh dich waschen!« Kaum hat er zu Ende gesprochen, löst er seinen Arm, nickt Mathéo zu, der ebenfalls loslässt und gibt Roger einen Stoß nach vorn.
Dieser kippt nach vorn und taucht mit einem lauten Platscher ins Meer ein.
»Ein Tiago-Schwein weniger«, stelle ich fest und gebe den Jungs das Zeichen, zurück zum Festland zu rudern. Schon bald werden die Tiagos ihren Informanten vermissen und dann will ich vorbereitet sein.
5. Kapitel
Elizá
Mehrere Stunden hat die Fahrt zum Anwesen der Tiagos gedauert. Ihr Anwesen liegt ein wenig außerhalb von Calandri, in der Nähe der italienisch-französischen Grenze und ist sehr abgelegen von der nächsten Stadt. Die Via alle Ville ist die einzige Straße, die dorthin führt. Jemand, der nicht ortsansässig ist, würde das Anwesen der Tiagos niemals finden. Die Tiagos, so hat Pierre mir das zumindest erzählt, haben enge Kontakte zu den großen, richtig gefährlichen italienischen Clans aus der Region. Auch, wenn mir ein wenig mulmig ist, bin ich dennoch gespannt, wie Pierre und seine Leute hier leben.
Während der Fahrt lasse ich letzten Wochen noch einmal Revue passieren und muss an einen ganz besonderen Tag denken. Drei Tage nach dem Konzert hat Pierre mich ziemlich zerknirscht angerufen. Ihn hat das schlechte Gewissen geplagt, weil er mich nach dem Gig nicht nach Hause gebracht hat. Zur Entschädigung hat er mich ins Hard Rock Café in Florenz eingeladen. Damit nicht genug, nach dem Essen hat er ohne große Umschweife eine für mich signierte Nirvana-CD aus seinem Rucksack hervorgezogen und auf den Tisch gelegt. Ich bin vor Freude fast ausgeflippt und konnte mein Glück gar nicht fassen. Für so einen Hardcore-Fan wie mich ein Hauptgewinn. Paulina, die wegen ihres neuen Mackers kaum noch Zeit für mich hat, war ganz schön neidisch. Pierre kann echt ein Schatz sein, wenn er will. Das hat er auch gezeigt, als nur wenige Wochen danach die Hiobsbotschaft von Cobains Tod auf mich und die gesamte Nirvana-Fan-Welt hereinstürzte. Das hat mich sehr mitgenommen, doch Pierre war für mich da.
Der Wagen ruckelt und reißt mich aus meinen schönen Gedanken. Nachdem wir von der Via alle Ville auf eine kleine Seitenstraße abgebogen sind, wird der Untergrund noch unebener und steiniger. Die schon recht warme Junisonne scheint durch die Baumkronen, links und rechts von der kleinen, unasphaltierten Straße.
Ich sitze auf der Rückbank von Pierres Geländewagen, den er heute ausnahmsweise mal nicht selbst fährt, sondern ein Mann namens Laurent.
Der Endfünfziger mit den kurzen, grauen Haaren ist mir mit seinem charismatischen Lächeln auf Anhieb sympathisch und passt irgendwie nicht zu den anderen Mitgliedern der Tiagos. Vito, ein hochgewachsenes Schwergewicht mit Glatze, trüben Augen und einem Lächeln so kalt wie das Wasser beim Untergang der Titanic, ist einer von ihnen. Er sitzt neben mir und raucht.
Der Zigarettenqualm nebelt mich unangenehm ein und es gibt für mich als Nichtraucher kaum etwas Ätzenderes als wie ein Aschenbecher zu stinken.
Pierre sitzt auf dem Beifahrersitz und dreht sich zu mir um. Er kaut seinen Kaugummi ziemlich offensichtlich und zwinkert mir zu. »Wir sind gleich da, Babe.«
Ich lächle ihm zu und muss daran denken, wie schnell die Zeit seit dem Konzert verflogen ist. Inzwischen sind Pierre und ich seit vier Monaten ein Paar. Jedoch ohne miteinander geschlafen zu haben. Pierre predigt mir immer sein Dogma: Sex nach der Eheschließung, denn er ist streng gläubig, was irgendwie so gar nicht zu seinem Lebensstil passt.
Wir biegen noch einmal ab und fahren durch ein Holztor auf einen Hof, der zu einem ländlichen Anwesen gehört.
Auf den entfernten, abgezäunten Koppeln, stehen Pferde und Schafe.
Nett, aber mit denen konnte ich noch nie etwas anfangen. Sind wir hier etwa auf einer Art Bauernhof? Habe ich mir irgendwie anders vorgestellt.
Der Jeep kommt kurz vor dem Anwesen, einer Villa, zum Stillstand. Aha. Also doch kein Bauernhof.
Vito öffnet die Tür und sofort dringt mir heiße, staubige Luft entgegen.
Neugierig steige ich aus. Die Sonne knallt mit voller Wucht auf den kleinen Parkplatz und brennt auf meiner Haut.
»Na, dann komm mal mit.« Pierre steuert auf die Villa zu und winkt mich grinsend hinter sich her.
Ich folge Vito und Pierre, in Richtung Hauseingang, während Laurent nach einem Schlauch greift und den verstaubten Wagen abspritzt. Was mich wohl hier erwartet?
Der sandige Boden knarzt leise unter unseren Fußsohlen.
Wir erreichen den überdachten Eingang und stehen endlich und dankbar im kühlenden Schatten.
Die azurblaue Eingangstür, wird von innen wie von Geisterhand geöffnet und gewährt mir einen Blick in die kleine Eingangshalle. Sie ist im mediterranen Stil eingerichtet und ein großer, weißer Teppich liegt auf dem beigen Steinboden.
Seitlich von mir steht eine mollige Frau in weißer Bluse und einer schwarzen Stoffhose. Wahrscheinlich eine Bedienstete, denn sie grüßt Pierre ganz förmlich mit »Signore Tiago« und klingt dabei ziemlich ehrfürchtig.
Pierre grüßt nüchtern zurück und geht an ihr vorbei, während Vito der Frau überhaupt keine Beachtung schenkt.
Sie ignoriert ihn ebenfalls. Scheinbar mögen die beiden sich nicht besonders. Dann sieht sie ihm kurz mit zornigem Blick nach, wirkt jedoch sofort wieder freundlich, als sie mich entdeckt. »Ciao e bentornato a casa«, werde ich von ihr begrüßt.
»Hallo, ich bin Elizá«, stelle ich mich mit einem freundlichen Lächeln vor.
»Herzlich willkommen.« Die Frau beugt sich nach vorn und es macht den Anschein, dass sie mich sympathisch findet.
»Das Personal hat nicht zu interessieren, wie du heißt. Komm jetzt«, brummt Vito, der kurz stehengeblieben ist und ungeduldig zu mir herübersieht.
Ich nicke schnell und trete ein.
Vito stiefelt geradewegs hinter Pierre her, der auf eine weitere Tür am Ende des Flurs zuhält.
Pierre legt die Hand auf die Klinke und drückt sie herunter.
Ich bin gespannt, was sich dahinter verbirgt.
Er tritt ein und öffnet mir die Pforte in eine andere Welt.
Vito bleibt neben der Tür stehen und wartet, bis ich ihn erreicht habe.
Mit klopfendem Herzen trete ich durch die Tür, durch die mir das Gezwitscher von Vögeln entgegen dringt, das ich noch nie zuvor vernommen habe. Kurz drehe ich mich um, doch Vito, der gerade noch neben der Tür stand, ist verschwunden.
»Komm!«, höre ich Pierre entnervt knurren.
Ich husche vorwärts und finde mich in einer riesigen Glaskuppel wieder, die ich beim Betreten des Grundstücks überhaupt nicht wahrgenommen habe. Wie konnte ich die nur übersehen?
Staunend lege ich den Kopf in den Nacken und betrachte das Dach der Kuppel, durch das Sonnenstrahlen hineinfallen. Sie scheinen vom Glas aus durch dichtes Geäst und kitzeln meine Nase.
Über all um mich herum sind Pflanzen, Sträucher, sogar Bäume. Wie kommt das alles hierher? In den Kronen der Bäume versteckt müssen viele Vögel sein, denn das muntere Gezwitscher kommt von ganz oben.
Pierre tritt vor mich und grinst selbstgefällig. »Na, beeindruckt?«
»Ja, sehr«, flüstere ich ehrfürchtig und drehe mich um die eigene Achse, um alle Eindrücke einzufangen.
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