»Die Vögel, die du da hörst, sind seltene Arten, die teilweise vom Aussterben bedroht sind. Aber das ist noch gar nichts. Komm mal mit.« Pierre geht an mir vorbei, greift nach meiner Hand und zieht mich langsam hinter sich her.
Wir gehen einen schmal gepflasterten Weg entlang, der uns tiefer in den künstlich angelegten Urwald führt. »Keine Sorge. Hier kann man sich nicht verlaufen. Es gibt nur einen einzigen Weg. Und der führt rein und raus.«
Staunend wandert mein Blick von links nach rechts und wieder zurück. Plötzlich bleibe ich stehen, als links von mir ein Schatten durch die Hecken huscht. Viel zu schnell rauscht das Tier an uns vorbei. Es war kein Hund, obwohl das Gesicht so aussah, aber auch keine Katze, obwohl es Streifen und einen langen Schwanz hatte. Ein Tier wie dieses, das etwas größer als ein Fuchs war, hatte ich noch nie zuvor gesehen. Weder in einem Zoo, noch in freier Wildbahn.
»Was war das?«
Pierre bleibt stehen und sieht ebenfalls nach links. Er zieht die Augenbrauen zusammen und schaut genauer in die Ecke, in der ich das Tier gesehen hatte.
»Sag bloß hier laufen Raubtiere rum?« Mir wird ganz mulmig bei der Vorstellung, vielleicht an der nächsten Hecke von einem Tiger überrascht zu werden.
»Ich glaube, das war Ramon.«
»Ramon?«, hake ich neugierig nach und bin mir immer noch nicht sicher, was genau ich da gesehen hatte.
»Ein tasmanischer Tiger«, sagt Pierre, als sei es das Normalste der Welt, dass ein offiziell für ausgestorben erklärtes Tier hier herumläuft.
»Das kann gar nicht sein.« Ich schüttle ungläubig lachend den Kopf. »Die gibt es schon lange nicht mehr. In Italien sowieso nicht. Der Mensch hat sie ausgerottet. Und das schon vor vielen Jahren. Wir hatte das Thema mal im Biologie-Unterricht. Das kann also nicht sein.«
»Warum nicht? Du hast ihn doch gesehen. Er ist sehr scheu, aber er ist ein echter Beutelwolf. Hat mich zwar eine halbe Millionen gekostet. Aber ich wollte unbedingt einen haben.«
Völlig perplex reiße ich die Augen auf, sehe noch einmal in die Richtung des Tieres, das sich schon wieder verzogen hat und dann erneut zu Pierre. »Wo hast du ihn her? Die gibt es doch gar nicht mehr. Oder ist das eine illegale Nachzucht?«
»Mit dem nötigen Kleingeld gibt es auf dem Schwarzmarkt alles, was du willst, Baby«, antwortet Pierre salopp, ohne auf meine letzte Frage einzugehen.
Skeptisch verschränke ich die Arme vor der Brust. »Wenn das wirklich ein Beutelwolf war, will ich ihn sehen. Aus der Nähe.«
»Wieso? Glaubst du, es war vielleicht doch nur ein angepinselter Hund?« Pierre lacht kehlig und stemmt die Arme in die Hüfte.
Ich fühle mich verarscht und verschränke die Arme vor der Brust. »Wer weiß.«
»Wie gesagt, er ist scheu. Deswegen gibt es hier auch keinen Stromzaun. Aber ich bin sowieso nie unbewaffnet. Allerdings ist Ramon nicht wie ein Hund, der angelaufen kommt, wenn man ihn beim Namen ruft.« Pierre hebt entschuldigend die Hände.
»Also doch nur Gelaber«, stelle ich fest und grinse spitzbübisch.
»Nein. Das ist ein tasmanischer Tiger.«
»So, so. Dann hast du vielleicht andere Beweise?«, sage ich anstachelnd und grinse.
Pierre schenkt mir ein smartes Lächeln und setzt zum Gehen an. »Na klar. Fotos von ihm und mir. In der Galerie. Zeig ich dir später. Komm jetzt weiter.« Was? Unglaublich. Na auf die Fotos bin ich gespannt. Ob sie echt oder eine Fotomontage sind?
Ein paar Minuten später erreichen wir sechs große Käfige. Es ist ziemlich laut hier, denn die roten Sumpfspringaffen, Rüsselhündchen, ein Amur Leopard und goldene Bambuslemuren, die sich in den Käfigen befinden, machen lautstark auf sich aufmerksam. Allesamt Tiere, die ich noch nie zuvor gesehen habe. Und alle wahrscheinlich selten und vom Aussterben bedroht.
Tierschützer oder kranker Sammler? »Kann es sein, dass du ein Faible für besondere Tiere hast?«, bemerke ich spitz, während ich staunend an den Käfigen vorbeigehe.
»Gut möglich?«, antwortet Pierre mit einer Frage.
Also doch eher ein kranker Sammler. Verdammt, das gefällt mir nicht. Solche Tiere sollten in Freiheit leben und ihre Art geschützt werden. Ich bleibe stehen, drehe mich zu Pierre um und sehe ihn ernst an. »Und warum das Ganze?«
»Weil ich es kann.« Da spricht wieder das überhebliche Arschloch aus ihm.
Typisch Pierre. Was sonst hätte ich für eine Antwort erwarten können?
Ein kleines Schmunzeln kann ich mir nun wirklich nicht verkneifen. »Du bist also ein großer Tierfreund, ja?«
Pierre bleibt stehen und sieht mich an, als ob ich ihn beleidigt habe. »Babe, willst du mich auf den Arm nehmen?«
Stille.
»Nein. Ich …«
»Pass auf«, grätscht Pierre meiner Antwort dazwischen und erklärt sich. »Einmal im Monat fahren Vito, Monti und ich raus und lassen eines der Tiere frei.«
Oh. Na immerhin. Es besteht doch noch Hoffnung, einen guten Menschen aus Pierre zu machen. Vorausgesetzt, dass es stimmt. Zufrieden lächele ich ihn an.
Pierre kratzt sich am Kinn. »Natürlich, um sie dann zu jagen und abzuknallen.« Er lächelt müde. »Die Trophäen hängen in unserem Esszimmer.«
In diesem Augenblick entgleitet mir alles aus dem Gesicht, das entspannte Lächeln und das Strahlen in meinen Augen. Wie versteinert stehe ich da und starre mein Gegenüber an. »Das war jetzt aber ein Witz, oder?«
»Nö. Ich zeig sie dir gleich. Ist mittlerweile schon ein kleines Museum. Nur damit sie durch die Gefangenschaft nicht scheiße aussehen, soll es ihnen vorher gutgehen. Deshalb der Aufwand hier«, sagt er nüchtern und ich höre ein wenig Stolz mitschwingen.
Ein unangenehmer Schauer überkommt mich. Das darf doch nicht wahr sein. Aber je länger ich darüber nachdenke, desto plausibler wird die Story. Es passt zu ihm. So ein Arsch. Ich möchte keine Minute länger hier sein.
»Du ehrlich gesagt, möchte ich jetzt doch lieber wieder nach Hause«, stammle ich.
»Was?« Ungläubig mustert er mich. »Etwa wegen den paar Tierchen? Das ist doch nicht dein Ernst.« Schallendes Gelächter bricht aus ihm heraus. Er lacht mich aus.
»Doch, das ist mein Ernst«, sage ich entschlossen und kneife die Augen finster zusammen.
Pierre beruhigt sich wieder, greift nach meiner Hand und zieht mich mit. »Komm, ich zeig dir mal unseren kleinen Wellnessbereich. Du wirst begeistert sein.« Er ignoriert meine Worte und zerrt mich so heftig hinter sich her, dass ich sofort verstehe, dass er keinerlei Gegenwehr meinerseits duldet.
Sofort muss ich an die unschönen Dinge denken, die ich über die Tiagos gehört habe. Die Brutalität, die sie bei Widerstand walten lassen. Besser, ich diskutiere jetzt nicht mit ihm.
6. Kapitel
Gabriel
Irgendwo in Südfrankreichs Pampa
Die Morgenröte malt den Himmel mit Gelb- und Orangetönen. Antoine und ich sind gerade auf dem Weg zu Mathéo und Alain, die erst seit einem halben Jahr Mitglieder unseres Clans sind. Die beiden haben in der Nacht ihr Auto leer gefahren und sind liegengeblieben.
Alain hat mir gesagt, sie würden auf der Col de la Gineste zwischen Vaufréges und Les Gorguettes festhängen. Aber diese Landstraße befindet sich auf beinahe zwölf Kilometer inmitten der Pampa. Keine Tankstelle. Nichts.
Alain hatte mehrere Kilometer laufen müssen, um mich anrufen zu können.
»Diese Deppen. Das war wieder so klar«, bemerkt Antoine genervt und blickt auf den großen Benzinkanister auf der Rückbank meines Wagens. »Jetzt können wir ihnen wieder den Arsch retten, nur weil die zwei zu blöd waren, auf die Tankanzeige zu gucken. Was denken die sich? Nur, weil ihre Probezeit jetzt um ist, können die machen, was sie wollen, oder wie?«
»Jetzt mach dich mal locker. Die zwei sind noch jung. Außerdem haben sie die Nacht mitten in der Pampa verbringen müssen – bei Regen und Kälte. Ich glaube, das war den zwei Idioten eine Lehre.« Mit einem Lächeln muss ich daran zurückdenken, als ich ganz frisch meinen Führerschein hatte und mein Auto ebenfalls einmal leergefahren habe. Aber das erzähle ich Antoine natürlich nicht.
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