Bei Loriot wird die ähnlich strukturierte Geschichte in ganz anderer, für sein Schaffen freilich typischer Weise präsentiert. Wie »Der vergebliche Versuch« zeigt auch »Das schiefe Bild« einen Slapstick des Misslingens; der Sketch bedient sich hierzu aber nicht grotesker, sondern humoristischer Mittel – und er knüpft damit an eine Idee von Humor an, die im Kern auf Gotthold Ephraim Lessing zurückgeht und in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts zu einem poetologischen Zentralkonzept aufsteigt. Nach dieser deutschen Tradition des Verständnisses von »Humor« bezeichnet der Begriff nicht allein die Aufgeschlossenheit gegenüber dem Komischen; er steht zugleich für eine grundsätzliche Gelassenheit gegenüber den Unzulänglichkeiten des Lebens, die als Voraussetzung der Aufgeschlossenheit gilt, und für eine wohlwollende Spielart des Komischen, die als Ausdruck dieser Gelassenheit verstanden wird. 15
Loriots Werk, der Blick auf seine Figuren und deren Fehlschläge, ist deutlich durch diese Tradition geprägt. Er zeigt Geschöpfe wie den Beamten in »Das schiefe Bild«, die im Alltag durch Kleinigkeiten ins Stolpern gebracht werden; das Straucheln und Stürzen der Figuren soll bei ihm aber kein spöttisches oder hämisches Verlachen auslösen, sondern nachsichtiges oder sogar mitfühlendes Belachen ermöglichen. Das Unheil, in das Loriots Figuren geraten, wird von ihnen zumeist selbst in Gang gesetzt. Die Katastrophen sind jedoch keine gerechte Strafe für schlechte Neigungen oder üble Taten; sie sind Ausdruck einer Kontingenz, die alle Menschen mit Schwächen und Unzulänglichkeiten treffen und zu Fall bringen kann – also jede und jeden.
Die humoristische Ausrichtung von Loriots Komik speist sich zweifellos aus Menschenfreundlichkeit. Sie erklärt sich aber auch aus Überlegungen, wie sich mit komischen Geschichten tatsächlich eine sinnvolle Wirkung erzielen lässt: »Wenn man Satire in sehr aggressiver Form macht – was ich durchaus akzeptiere und respektiere –, halte ich das für gefährlich, denn die, die es angehen soll, die zuhören sollen, die machen die Scheuklappen runter und spielen nicht mehr mit, hören nicht mehr zu. Und dann entsteht eine Satire, die immer nur von denen gehört wird, die ohnehin dieser Ansicht sind und die gar nicht angegriffen werden sollen. Und das ist falsch. Man muss ja die Aufnahmebereitschaft erhalten.« 16Loriot nutzt in seinen Sketchen, Cartoons und Filmen eine Bandbreite von Spielarten satirischer Komik, durchaus auch aggressive. Im Interesse, die »Aufnahmebereitschaft« des Publikums zu erhalten, verzichtet er aber konsequent auf Formen des Spotts, die allein auf Bloßstellung und Herabsetzung abzielen; es fehlt bei ihm nie die Einladung zur Anteilnahme am Schicksal der Verspotteten.
Ein weiterer deutscher Traditionsfaden, der im Gewebe von Loriots Werk immer wieder aufscheint und abschließend zumindest genannt werden soll, verbindet dieses mit Karl Valentin. Wie das Schaffen des bayerischen Komikers, den er als »großen Könner« 17verehrte, wird das des preußischen Humoristen durch das Bewusstsein und die Begeisterung für die Absurditäten des menschlichen Lebens und gesellschaftlichen Miteinanders geprägt. Getragen von dieser Haltung wenden sich beide in ihren Werken mit verwandten Mitteln beharrlich zwei gemeinsamen Grundthemen zu.
Quelle des Komischen ist für Valentin und Loriot einerseits die Kommunikationsunfähigkeit der Menschen, ihr Aneinander-Vorbeireden, ihre Worthülsen und ihre Sprachlosigkeit. Wie sich Verständigung in den Stricken von Phrasen und Ritualen verfängt und zu Fall kommt, führt Loriot mit erbarmungsloser Klarheit und bestürzender Komik insbesondere in Szenen über eheliche Kommunikation vor, wie etwa dem berühmten Sketch »Das Ei« 18. Er bewegt sich dabei unverkennbar auf Spuren, die Valentin mit Werken wie »Der Hasenbraten« von 1937 hinterlassen hat, einem Hörspiel, in dem sich ein Mann so lang bei seiner Frau über die Temperatur der Suppe beschwert, bis der Hasenbraten im Ofen verbrannt ist und er mit der Meldung beim Tierschutzverein droht. 19
Gemeinsames Leitmotiv der Komik von Valentin und Loriot ist andererseits das Umkippen des Vernünftigen und Sinnvollen ins Unvernünftige und Unsinnige. Wenn Heinrich Lohse in »Pappa ante Portas« für die Familie einkauft und, verlockt durch einen minimalen Mengenrabatt, Dutzende Paletten Senfgläser erwirbt, dann zeigt sich in seinem Verhalten ein Ineinander von Rationalität und Konfusion, das viele Figuren von Loriot kennzeichnet und aus dem Gutgedachten in seinen Geschichten das Schlechtgemachte entstehen lässt. Die Charaktere machen so ein Handlungsmuster anschaulich, das schon von Valentin gern zur Komikerzeugung genutzt wird, in besonders pointierter Form in der Stummfilmgroteske »Der neue Schreibtisch« 20aus dem Jahr 1913: Mit großem Eifer und den besten Absichten bearbeitet die Hauptfigur hier die Beine eines Tischs und eines Stuhls so lang, bis sie nicht mehr da sind.
Die wohlwollende Satire, der mitfühlende Humor, die slapstickhaften Katastrophen des Alltags oder die absurden Desaster der Verständigung – Loriots Werk führt in wesentlichen Zügen deutsche Komiktraditionen fort. Dies gilt es freilich nicht misszuverstehen. Die Betrachtungen sollten nicht bestreiten, dass britische oder andere Traditionen bei Loriot ebenfalls oder sogar noch entscheidender nachwirken. Und sie wollten nicht infrage stellen, dass Loriots Werk vor allem das ist, was sich Frau Hoppenstedt von einem Jodeldiplom erhofft: »was Eigenes« 21.
1Vgl. dazu Robert Gernhardt: »Begegnungen mit Loriot, persönlich [1983]«, in: Ders.: »Was gibt’s denn da zu lachen? Kritik der Komiker, Kritik der Kritiker, Kritik der Komik«, Zürich 1988, S. 365–371, S. 368 f. — 2Loriot: »Bizarr – Grotesk – Monströs. Rede zur Ausstellung zeitgenössischer Karikaturisten der Kestner-Gesellschaft in Hannover 17.2.1978«, in: Ders.: »Möpse & Menschen. Eine Art Biographie«, Zürich 1983, S. 311–313, S. 311. — 3Eine verbreitete Meinung fasst das rückblickende Urteil von Klaus Grünwaldt zusammen: »Durch Loriot ist der feine englische Humor nach Deutschland importiert worden«, vgl. ders.: »›Wenn Gott keinen Humor hätte, wollte ich nicht in den Himmel kommen‹ (Martin Luther). Über Glauben und Humor«, in: Christoph Barnbrock / Hans-Jörg Voigt (Hg.): »Lutherisch ist, wenn man trotzdem lacht«, Norderstedt 2018, S. 112–122, S. 114 (Hervorh. im Original). Angemerkt sei, dass das Zitat in Grünwaldts Aufsatztitel, zumindest im vorliegenden Wortlaut, nicht von Luther stammt. — 4Vgl. insbesondere Hans-Dieter Gelfert: »Mit einem Lachen nach Westen«, in: »Die Welt«, 27.8.2011, und Cornelia Neumann: »Nonsense versus Tiefsinn? Ein interkultureller Vergleich der Fernsehsketche von Loriot und Monty Python. Über den deutschen und englischen Humor«, München/Ravensburg 2001. — 5So etwa in einer Unterhaltung mit August Everding, in der Loriot ausführt, wie wichtig die deutsche Sprache für seine Komik ist, vgl. https://www.youtube.com/watch?v=6FHT87fWPTc, min. 13.45–17.15 (15.1.2021). Für den Hinweis auf das Gespräch danke ich Claudia Hillebrandt. — 6Vgl. dazu http://www.wilhelm-busch-preis.de/index.php/preistraeger/94-preistraeger-2007(15.1.2021). — 7Wilhelm Busch: »Die Folgen der Kraft«, in: Ders.: »Werke. Historisch-kritische Gesamtausgabe. 5 Bde.«, hg. von Friedrich Bohne, Hamburg 1959, Bd. 2, S. 183–190. — 8Vgl. Loriot: »Herren im Bad«, in: Ders.: »Loriots dramatische Werke. Verbesserte Neuausgabe«, Zürich 1983, S. 26–33. — 9Busch: »Das Bad am Samstagabend«, in: Ders.: »Werke« a. a. O., Bd. 1, S. 542–549. — 10Vgl. auch den Vergleich von Busch und Loriot aus soziologisch-psychoanalytischer Perspektive in Jens Wietschorke: »Psychogramme des Kleinbürgertums: Zur sozialen Satire bei Wilhelm Busch und Loriot«, in: »IASL« 38,1 (2013), S. 100–120. — 11Zu Vischer und seinen Ideen von Komik und der »Tücke des Objekts« vgl. Matías Martínez: »Doppelte Welten. Struktur und Sinn zweideutigen Erzählens«, Göttingen 1996, S. 109–150. — 12Busch: »Der vergebliche Versuch«, in: Ders.: »Werke«, a. a. O., Bd. 1, S. 446–452. — 13Loriot: »Das schiefe Bild«, in: Ders.: »Loriots dramatische Werke«, a. a. O., S. 73–83. Vgl. zu dem Sketch auch Alexander Kling: »Aus dem Rahmen fallen. Dingtheorie, Narratologie und das Komische (Platon, Vischer, Loriot)«, in: Martina Wernli / Alexander Kling (Hg.): »Das Verhältnis von res und verba. Zu den Narrativen der Dinge«, Freiburg i. Br./Berlin/Wien 2018, S. 309–332. — 14Vgl. zu diesem Grundzug von Buschs Werk bereits Wolfgang Kayser: »Wilhelm Buschs grotesker Humor«, Göttingen 1958. — 15Vgl. Tom Kindt: »Humor«, in: Uwe Wirth (Hg.): »Komik. Grundbegriffe – Zugänge – Mediale Formen. Ein interdisziplinäres Handbuch«, Stuttgart 2017, S. 7–11. — 16So Loriot im Gespräch mit Gero von Boehm in Gero von Boehm: »Nahaufnahmen. Fünfzig Gespräche mit dem Leben«, Berlin 2016, S. 157–167, hier S. 159. — 17Vgl. https://www.loriot.de/index.php/loriot/interviews/58-interview-guenter-kaindlstorfer(15.1.2021). — 18Vgl. Loriot: »Das Ei«, in: Ders.: »Loriots dramatische Werke«, a. a. O., S. 118–119. — 19Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=9tWXJGb2aXE(15.1.2021). — 20Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=IN-sD4RZjtQ(15.1.2021). — 21Loriot: »Die Jodelschule«, in: Ders.: »Loriots dramatische Werke«, a. a. O., S. 164–168, S. 167. Ich danke dem Diogenes Verlag (Zürich) für die Genehmigung, aus Loriots Werken zu zitieren.
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