Die Frage stellt sich umso mehr, als den Deutschen traditionell vieles nachgesagt wird, etwa der Hang zu »Sekundärtugenden«, mit denen man, Oskar Lafontaines bösem (gegen Helmut Schmidt gerichteten) Diktum zufolge, »auch ein KZ betreiben« könne, 6aber gewiss keine Tendenz zu anarchischem Humor und Selbstironie. Letztere werden bekanntlich eher auf der britischen Insel verortet, zum Beispiel bei der Komikergruppe Monty Python, die solche Nationalklischees in ihrer etwa zeitgleich mit Loriots Fernseharbeiten in der BBC ausgestrahlten Show »Flying Circus« zum Thema gemacht hat: In ihrem Sketch »The Funniest Joke in the World« entwickeln die Briten während des Zweiten Weltkriegs als Waffe einen Witz, über den sich jeder (buchstäblich) totlacht, während die Deutschen mit ihrem in Peenemünde entwickelten »V-Joke« in England nur Befremden auslösen und daher den Krieg verlieren. 7
Nun geben Nationalklischees zwar ein dankbares Feld für Satire ab, als Grundlage von Wissenschaft sind sie allerdings zu Recht aus der Mode gekommen. Will man also der Frage nach Loriots anscheinend bis heute ungebrochener Popularität nachgehen, dann bieten sich kultur- und sozialhistorische Zugänge an, insbesondere solche, die nach der Transformation der westdeutschen Gesellschaft nach 1945 fragen. In welche Diskurse hat er sich eingeschrieben, in welche gerade nicht? Dafür genügt es dann doch nicht, textimmanent zu arbeiten, auch wenn die Loriot-Gesamtausgabe, laut Axel Hacke, 1152 Seiten umfasst und 4,1 Kilogramm wiegt. 8Den Ausgangspunkt bildet vielmehr die Historiografie der Bundesrepublik. Das »bedruckte Papier« der »Sozialforscher« wird dafür also zwar nicht tonnen-, aber doch auszugsweise herangezogen werden müssen.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Gemeint ist dabei hier dezidiert die ›alte‹ Bundesrepublik, also Westdeutschland von 1949 bis 1990. Zwar hatte Loriot auch in der DDR eine große Fangemeinde, und er hat als geborener Brandenburger die Verbreitung seiner Werke im Osten stets gefördert: Neben der Publikation seiner Zeichnungen im Eulenspiegel-Verlag bereits in den 1970er Jahren gab es in den 1980ern auch zwei Ausstellungen seiner Zeichnungen in Brandenburg an der Havel und in Weimar sowie eine Lesung im Palast der Republik. Loriots Verhältnis zur DDR und zur Wiedervereinigung wäre ein eigenes, lohnendes Thema. Aber dies ändert nichts daran, dass sich sein Werk thematisch auf die bürgerliche, westdeutsche Gesellschaft bezieht. Die DDR kommt allenfalls ganz am Rande vor.
Aus Anlass des 50-jährigen Bestehens der Bundesrepublik hat der Hamburger Historiker Axel Schildt eine Typologie von Erzählungen ihrer Geschichte skizziert. 9Die eher zeitgenössischen Entwürfe als reine Erfolgs- oder Misserfolgsgeschichte hat er dabei mit guten Gründen verworfen, übrig geblieben sind bei ihm Erzählungen als Modernisierungs-, als Westernisierungs- und als Belastungsgeschichte. Während die erste vor allem die sich rasch verändernden sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen und Strukturen der entstehenden Konsumgesellschaft betont, steht die zweite für die politische und kulturelle Westbindung im Kalten Krieg, die daraus resultierenden kulturellen Einflüsse und Liberalisierungsprozesse. Die dritte schließlich rückt den Bruch und die Konsequenzen in den Vordergrund, die sich aus der moralischen und materiellen Katastrophe des Jahres 1945 ergaben. Dieses komplementäre Raster soll im Folgenden dazu dienen, der Beziehung zwischen Loriot und der deutschen Gesellschaft ein wenig näherzukommen.
Witz im Wirtschaftswunder. Loriot und die Modernisierung der Bundesrepublik
Vielleicht am offensichtlichsten sind die Bezüge Loriots zur Geschichte der Bundesrepublik als Modernisierungserzählung. Das betrifft zum einen ihre Medialisierung, also die wachsende Bedeutung der populären Massenmedien und die Durchsetzung des Fernsehens. Denn vor allem den nun populären, visuellen Medien verdankte Loriot seinen Erfolg: Seine ersten Zeichnungen und Satiren erschienen in der illustrierten Presse, unter anderem im »Stern«, in »Weltbild« und »Quick«. Schon ab Mitte der 1960er Jahre kam dann das noch junge, in bildungsbürgerlichen Kreisen ebenfalls wenig geschätzte Fernsehen hinzu, wobei er dort zunächst besonders mit Trickfilmen vertreten war, einem Medium, das bis dato allenfalls Kinder adressierte. Sein erster Kinospielfilm hatte dagegen erst 1988 Premiere.
Zum anderen war die sich entfaltende Konsumgesellschaft eines der zentralen Themen von Loriot: Immer wieder ging es bei ihm mit durchaus kulturkritischem Unterton um ihre vermeintlichen Segnungen, etwa die verlogenen Versprechen der Werbung, um besinnungslosen Konsum, die fragwürdigen kulturellen Leistungen der Massenmedien oder die problematischen Auswüchse der individuellen Motorisierung und des zunehmenden Tourismus. Dies lässt sich besonders an seinen Cartoons aus den 1950er und 1960er Jahren festmachen, ebenso wie an seinen Beiträgen zur Quick-Kolumne »Der ganz offene Brief« (1957–1961). Doch selbst in den späteren Fernseharbeiten sind diese Themen noch sehr präsent: Man denke nur an den Vertreterbesuch bei Familie Hoppenstedt oder die durch eine Betonwüste irrende Touristenfamilie auf der Suche nach dem Strand.
Der Umgang mit diesen Phänomenen und ihren kulturellen Konsequenzen bildet ein Kernthema des Frühwerks. Dabei scheint es sich bei der Gesellschaft, die Loriot porträtiert, stets um eine Art »nivellierte Mittelstandsgesellschaft« zu handeln, also Helmut Schelskys zeitgenössische Vorstellung einer hegemonialen Mittelschicht 10– andere Milieus spielen kaum eine Rolle. Gewandet sind seine Parodien allerdings oft im Stil der untergegangenen Welt des frühen 20. Jahrhunderts: Die Männer tragen Stresemann, Fliege und Bowler, die Frauen geblümtes Kleid, »hier gibt es noch Hörrohre, Haarknoten und das Haustier als Problem«. 11Jenes rückwärtsgewandte Dekor der frühen Bundesrepublik, an dem sich im Zuge der 68er-Bewegung oft die – freilich zu oberflächliche – Einschätzung als restaurativ festgemacht hat, es findet sich auch hier.
Die Komik Loriots in der frühen Bundesrepublik der 1950er und 1960er Jahre kann somit einem prominenten konservativen Diskurs zugeordnet werden, der die Dynamik der Wirtschaftswunder-Gesellschaft mit Skepsis betrachtete. Aber er tat dies nicht nur in anderen, ›modernen‹ Medien und an anderen Orten als der tonangebende konservative Mainstream, sondern auch in einer demokratisierten Form. Denn anders als die traditionellen Eliten, denen es dabei immer auch um die Verteidigung ihres gesellschaftlichen Status zu tun war, ließ Loriot keinen Zweifel daran, dass er sich als Teil dieser Gesellschaft betrachtete: Als Mediennutzer, Konsument, Autobesitzer und sogar Hersteller von Werbefilmen war er selbst gleichermaßen Verursacher wie Opfer der von ihm karikierten Modernisierungsfolgen. Daher scheint das sozialgeschichtliche Etikett für die Entwicklung der frühen Bundesrepublik von einer »Modernisierung unter konservativen Auspizien« (Christoph Kleßmann) 12auch für Loriot zu passen.
Lachend auf dem langen Weg nach Westen?
Die Erzählung der kulturellen Westernisierung und Liberalisierung der Bundesrepublik ist zweifellos eng an Phänomene wie die Entwicklung des Massenkonsums und ihre Medialisierung gebunden, nur ist sie stärker auf kulturelle Transfers, auf die Einflüsse aus den Gesellschaften der westlichen Siegermächte, Phänomene der ›Amerikanisierung‹ und ihrer Abwehr bezogen. Zeitgenössisch spielten dabei überkommene binäre, antagonistische Vorstellungen von Hoch- und Populärkultur eine zentrale Rolle. Die Anstrengungen der kulturellen Eliten richteten sich auf eine Geschmacksbildung der Bevölkerung, die sich am klassischen, nationalen hochkulturellen Kanon orientierte. Demgegenüber galt die Populärkultur als ›amerikanisch‹, als minderwertig, wenn nicht schädlich. Gerade die jungen Medien Comic und Fernsehen sahen sich entsprechenden Ressentiments ausgesetzt.
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