Die StPO stellte 1877 einen wesentlichen weiteren Schritt zur Rechtseinheit nach dem kurz zuvor in Kraft getretenen StGB dar. Indes wurde die Kodifikation des Strafprozessrechts nach der Reichsgründung 1870/71 nicht einfach aus dem Boden gestampft. Als ein maßgeblicher Vorläufer kann das preussische „Gesetz betreffend das Verfahren in den beim Kammergericht und dem Kriminalgericht in Berlin zu führenden Untersuchungen“ vom 17.7.1846 betrachtet werden. Mit diesem Gesetz bereits – von König Friedrich Wilhelm IV. erlassen und durch Vorarbeiten des preussischen Justizministers v. Savigny wesentlich geprägt – wurde in Preussen der Inquisitionsprozess abgelöst und das Anklageprinzip eingeführt. Die Fortentwicklung dieses grundlegenden Gesetzeswerkes in verschiedenen StPO-Entwürfen mündete in die StPO des Norddeutschen Bundes, welche schließlich die Grundlage der RStPO von 1877 bildete und teilweise schon wortgleiche Formulierungen von Bestimmungen enthielt, die noch heute gelten 45.
8Will man den Aufbauder StPO durchleuchten, so lässt sich zunächst eine Gliederung in acht Bücher feststellen, die sich wiederum in Abschnitte unterteilen. Das erste Buch enthält die allgemeinen („vor die Klammer gezogenen“) Vorschriften, die grundsätzlich für sämtliche Verfahrenszüge gelten. Es finden sich hier Vorschriften über die örtliche Zuständigkeit der Gerichte, die Verteidigung und die Gewinnung von Beweismitteln. Das zweite Buch betrifft das Verfahren im ersten Rechtszug, wobei der erste und zweite Abschnitt vor allen Dingen die Staatsanwaltschaft ansprechen. Sie enthalten nämlich die Regelung des Vorverfahrens (Ermittlungsverfahrens). Die sonstigen Abschnitte des zweiten Buches wenden sich insbesondere an den Richter, denn sie umfassen die Voraussetzungen und den Ablauf des Hauptverfahrens. Das dritte Buch ist für den Beschuldigten und den Verteidiger von größter Bedeutung, denn es behandelt Vorschriften über die Einlegung von Rechtsmitteln. Das vierte Buch spricht den Verurteilten an, wenn er eine Wiederaufnahme des Verfahrens erreichen will. Das fünfte Buch betrifft die Beteiligung des Verletzten am Verfahren. Das sechste Buch legt die Besonderheiten bestimmter Verfahrensarten (z. B. Strafbefehlsverfahren) fest. Das siebente Buch wendet sich wiederum an den Verurteilten und an die Staatsanwaltschaft als Strafvollstreckungsbehörde, denn es regelt die Strafvollstreckung und Kosten des Verfahrens. Durch das StVÄG 99 ist ein achtes Buch hinzu gekommen, welches in Erfüllung der Vorgaben des Volkszählungsurteils des BVerfG die Rechtsgrundlagen für Auskunftserteilungen an nicht am Verfahren beteiligten Stellen und Personen sowie für die Dateien der Strafverfolgungsbehörden zum Gegenstand hat.
In unserem Ausgangsfall ist die Strafprozessordnung als Rechtsquelle einschlägig, denn sie sieht in § 153 Abs. 1 StPO die Möglichkeit der Einstellung des Verfahrens durch die StA vor, wenn die Schuld des Täters als gering anzusehen wäre und kein öffentliches Interesse an der Verfolgung besteht. Diese Voraussetzungen ließen sich nach dem Sachverhalt des Ausgangsfalls bejahen. Aus der StPO ergibt sich also die Rechtswidrigkeit der Einstellung nicht.
2.Sekundäre Rechtsquellen des Strafverfahrensrechts
9Neben der StPO gibt es eine Vielzahl von Gesetzen, die ebenfalls strafverfahrensrechtliche Inhalte oder Bezüge aufweisen. So legt das Gerichtsverfassungsgesetz ( GVG) den organisatorischen Aufbau und die sachlichen Zuständigkeiten der ordentlichen Gerichtsbarkeit und der Staatsanwaltschaft fest. §§ 169 ff. GVG bestimmen Einzelheiten des Ablaufs der Hauptverhandlung und ergänzen damit unmittelbar die StPO. Das Grundgesetz ( GG) zeitigt als höherrangiges Recht einschneidende Wirkungen im Strafverfahrensrecht und modifiziert im Einzelfall die aus der Anwendung der einfachgesetzlichen StPO gewonnenen Ergebnisse. Demgegenüber steht die Menschenrechtskonvention ( MRK) lediglich im Rang eines einfachen Bundesgesetzes 46. Dennoch erfährt sie einen ständigen Bedeutungszuwachs als Auslegungsmaßstab des innerstaatlichen Strafprozessrechts und durch die Spruchpraxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), bei dem einzelne Mitgliedsstaaten wegen Verletzungen der Konvention verklagt werden können, was auch zunehmend mit Erfolg geschieht 47. Art. 6 Abs. 2 MRK enthält explizit die Unschuldsvermutung.
10Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sei noch auf eine Vielzahl sonstiger Gesetze hingewiesen, die im Einzelfall zur Lösung strafverfahrensrechtlicher Probleme heranzuziehen sind: Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen (StrEG), Gesetz über die Entschädigung von Zeugen und Sachverständigen (ZuSEG), Gesetz über die Entschädigung von Gewalttaten (OEG), Deutsches Richtergesetz (DRiG), Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO), Bundeszentralregistergesetz (BZRG), Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG), Justizmitteilungsgesetz (JuMiG) und das Jugendgerichtsgesetz (JGG). In vereinzelten Vorschriften enthalten auch das StGB, die Abgabenordnung (AO) und das Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (OWiG) strafverfahrensrechtliche Inhalte.
3.Abgrenzung: Allgemeine Verwaltungsvorschriften
11Die Rechtsquellen des Strafverfahrensrechts werden durch eine Vielzahl von allgemeinen Verwaltungsvorschriften ergänzt, die nicht selbst Rechtsquellen darstellen und folglich den Richter in seinen Entscheidungen nicht binden. Sie wenden sich an die mit dem Vollzug des Strafverfahrensrechts betreuten Exekutivstellen. So sind die Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren ( RiStBV) vornehmlich für den Staatsanwalt bestimmt und haben für den Richter nur empfehlenden Charakter 48. Unter den Anlagen zu den RiStBV befinden sich höchst bedeutsame wie die Gemeinsamen Richtlinien der Justizminister/-senatoren und Innenminister/-senatoren des Bundes und der Länder über die Anwendung unmittelbaren Zwangs durch Polizeibeamte auf Anordnung des Staatsanwalts (Anlage A) und über die Inanspruchnahme von Informanten sowie über den Einsatz von Vertrauenspersonen (V-Personen) und Verdeckten Ermittlern im Rahmen der Strafverfolgung (Anlage D). Die Untersuchungshaftvollzugsordnung ( UVollZO) wurde inzwischen durch Landesgesetze abgelöst 49. Beträchtliche Auswirkungen auf den Ablauf der Ermittlungen zeitigen schließlich jene Polizeidienstvorschriften ( PDV), welche inhaltsgleich von sämtlichen Bundesländern in Kraft gesetzt worden sind.
Im Ausgangsfall hat Staatsanwalt S. gegen Nr. 93 Abs. 1 RiStBV verstoßen, weil danach der Staatsanwalt verpflichtet ist, vor Einholung der gerichtlichen Zustimmung zur Einstellung nach § 153 StPO mit solchen Behörden oder öffentlichen Körperschaften in Verbindung zu treten, welche die Strafanzeige erstattet haben oder sonst am Verfahren interessiert sind. Dies war hier im Falle des Polizeipräsidenten gegeben. Damit hat S. aber nur innerdienstlich weisungswidrig gehandelt, was für ihn Folgen in der Dienstaufsicht haben könnte. Die Einstellung selbst wird damit jedoch nicht rechtswidrig, da die RiStBV keine Rechtsquelle darstellen, sondern lediglich eine allgemeine Verwaltungsvorschrift sind. Verstößt aber ein Staatsanwalt zum Nachteil eines Bürgers gegen die RiStBV (z. B. durch Berufungseinlegung entgegen Nr. 147), kommt dem infolge des Gleichbehandlungsgrundsatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) Außenwirkung zu.
4.Gesetzgebungskompetenz im Strafverfahrensrecht
11aPolizeiobermeister P. hat Urlaub, ist aber nicht verreist. Bei einem Spaziergang durch die heimatliche Gemeinde, in der er sonst seinen Dienst versieht, begegnet ihm der aus der JVA entwichene Strafgefangene S., der mit Vollstreckungshaftbefehl gesucht wird und aufgrund staatsanwaltschaftlicher Anordnung zur Festnahme ausgeschrieben ist. P. erkennt den S. sofort vom Fahndungsfoto her wieder. P. ruft: „Halt, Polizei!“ und erklärt den S. für festgenommen; dieser ergreift jedoch unmittelbar die Flucht. P. läuft dem S. nach, muss aber einsehen, dass S. schneller ist. Nur durch einen gezielten Schuss aus der von ihm mitgeführten Dienstwaffe auf die Beine des S. gelingt es ihm, diesen an der weiteren Flucht zu hindern.
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